Fotos: Natascha Romboy
18.1.2017: Es ist ein sonniger Winternachmittag. Für meinen heutigen Atelierbesuch habe ich nur einen kurzen Weg zu gehen. Der Künstler, den ich vorstellen werde, wohnt und arbeitet in meiner Heimatstadt Mönchengladbach. Es ist der Bildhauer und Maler Thomas Virnich. Einzelne seiner Arbeiten sind mir aus dem öffentlichen Raum sowie aus Museumsausstellungen gut bekannt. Aktuell wird der Düsseldorfer Akademieabsolvent und Professor der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig in Lugano präsentiert. Von seinem ungewöhnlichen Arbeitsplatz habe ich schon viel gehört. Es ist eine ehemalige Schule, die sich seit 1989 stetig in einen Ort der Kunst verwandelt haben soll.
Das Grundstück wird von einer für diese Gebäude typischen Backsteinmauer umschlossen. Irgendwo befände sich hier ein großes grünes Tor mit seitlicher Schelle, wo ich mich bemerkbar machen soll. Langsam fahre ich an der Mauer entlang, erspähe Tor und Schelle und sehe im selben Moment Thomas Virnich, der uns zuwinkt. Uns, weil ich wieder das Glück habe, von einer Fotografin begleitet zu werden. Diesmal ist es Natascha Romboy.
Gemeinsam gehen wir durch das Tor. Der ehemalige Schulhof muss sich in einen verwunschenen Zaubergarten verwandelt haben. Anders ist es nicht zu erklären, dass ich wie magisch kreuz und quer von skulpturalen Formgebilden angezogen werde, die an fantastische Fabelwesen erinnern oder aus der Verzauberung ehemals geometrischer Figuren entstanden zu sein scheinen. Dazwischen finden sich immer wieder Skurrilitäten: der Korpus einer ausgedienten Schaufensterpuppe, der in lasziver Haltung in einem Drahtkorb steckt; ein großes rosa Plastikschwein, das uns frech angrinst oder Heiligenfiguren, die sich zwischen den Skulpturen zu behaupten versuchen – alle scheinen sich in diesen Zaubergarten verirrt zu haben. „Ich durchstöbere sehr gern Trödelmärkte und lasse mich dort inspirieren“, lautet die Erklärung des lachenden Künstlers, als er meinen leicht irritierten Blick auf das Schwein bemerkt.
Bild 1: Canal Street (work in Progress) – Bild 2: Wurzelköpfe (Work in progress) – Bild 3: Ziegelbau (2015) – Bild 4: Fußballwelt (2005) – Bild 5 und 6: Beispiele von Trödel
Die anscheinend schlingernden und wabernden Formen der Skulpturen begeistern mich ebenso wie die Vielfalt der darin verwendeten Materialien. Neben Arbeiten in Keramik, Holz und Metall finden sich Arbeiten in Papier und Wachs. Virnich zeigt mir das Außenlager seines Materialdepots, daneben einen Raum mit Brennöfen: „Die Öfen ermöglichen es mir, direkt hier vor Ort meine Keramikarbeiten zu brennen“, erklärt er mir. Einer der Öfen ist von beeindruckender Größe. Ideal für die Hexe bei Hänsel und Gretel, denke ich.
Anschließend geht es in den ersten Atelierraum: Ein Sammelsurium aus Farbtuben, Pinseln, Werkzeugen und Undefinierbarem stapelt und türmt sich in Regalen oder auf Werkbänken, und spiegelt den klassischen Atelierraum unserer Vorstellungswelt. Doch es gibt auch geräumte Flächen, wo Einzelstücke offensichtlich gerade bearbeitet werden und unterschiedliche Entwicklungsstadien erkennen lassen – eine Gelegenheit für mich, erste Gemeinsamkeiten aufzuspüren. Ich sehe zerlegte schiefe Häuser, teils geöffnet, teils geschlossen, oft mit vorgelagerten kleinen Terrassen und krummen bunten Schornsteinen an den Dächern, die Fenster rund, eckig, groß oder klein, die einzelnen Architekturelemente Mischungen aus profan und sakral. Sie scheinen auf Sockeln zu schweben, die ein bisschen aussehen wie Baumstämme oder besser gesagt, wie irgendetwas Vegetabiles. Überzogen sind sie von Keramiklasierungen, die an Zuckerguss erinnern.
Bild 1: Modelle aus Helter Skelter (2015/2016) – Bild 2: Detailansicht „Geister“
Ein Sockel fällt allerdings aus der Rolle. „Was ist das?“, frage ich Thomas Virnich und deute auf das Gebilde vor mir. „Das ist ein Raumschiff“, lautet die Antwort, die einen nächsten irritierten Blick von mir hervorruft. Ein Haus auf einem Raumschiff? Ich brauche nun definitiv ein bisschen Input. „Es ist alles gar nicht so kompliziert“, werde ich beruhigt. „Es gibt klassische Fragestellungen und Themen in meiner Arbeit. Die Fragen lauten: Wo kommen wir her, wo leben wir und wo gehen wir hin?“ In Natur- und Pflanzenwelt, Haus und Raumschiff sind alle diese Fragestellungen vereint, leuchtet mir ein. „Dann geht es ganz zentral um Schützen, Umhüllen, Verpacken, insgesamt um die Auseinandersetzung mit den uns umgebenden Welten. Unserer persönlichen, in der wir leben, die wir gestalten, aber auch um die Auseinandersetzung mit der Erde als einem der Planeten des Universums. Das umfasst sozusagen alles, vom Urknall bis heute.“
„Und wie finden die typischen Virnich’schen Geisterfiguren hierin ihren Platz?“, frage ich und zeige auf eine solche. Zur Erklärung: Vielfach finden sich Figuren in seinen Arbeiten, die an Geister oder Engel erinnern. „Sollen hiermit vielleicht die Transformationsprozesse symbolisiert werden“, glaube ich gerade den Hintergrund entdeckt zu haben. „Nein. Nein. Das ist viel einfacher“, winkt er ab. „Wenn ich meine Plastiken aushöhle, entwickeln sich dabei häufig selbstständige Figuren, die ein bisschen aussehen wie Geister. Diese setze ich dann gern, wie hier, in die neuen Öffnungen hinein“, erklärt er mir am Beispiel einer kleinen Figur, die an einer Fensteröffnung schwebt. Oje, peinlich! Hier zeigt sich wieder einmal, wie schnell Kunst doch überinterpretiert werden kann …
Wir wechseln in den nächsten Raum. Insgesamt ein ähnliches Bild, jedoch alles noch ein bisschen dichter und mehr Modellage. Die Lust am Formen und Kneten wird hier fühlbar. Es ist verführerisch, überall anfassen zu dürfen. Das ist doch bestimmt Pappe, denke ich beim Anblick der typischen Rillen von Wellpappe, fühle vorsichtig darüber und stelle fest, dass es Keramik ist. Der Schein trügt mich mehrfach auf meiner weiteren Erkundungstour. Es geht die Treppe hinauf. Im Regal am Treppenabsatz fallen mir die vielen Globen auf. Er scheint Welten nicht nur zu gestalten, sondern auch zu sammeln …
Bild 1: Blick in das Atelier – Bild 2: Formen zu Mailänder Dom (2016) – Bild 3: Blick aus dem Fenster des Ateliers
Oben werden vollendete Werke aufbewahrt. In offenen Regalen, Vitrinenschränken, auf Fensterbänken, dem Boden, auf den Schränken – einfach überall. Es ist sozusagen eine Überblicks-Show. Erstmals sind auch Gemälde und Künstlerbücher zu sehen. „Mein Gemälde-Atelier habe ich in unserem Ferienhaus auf Mallorca eingerichtet, in Sóller. Ich versuche alles ein bisschen zu trennen“, erfahre ich in diesem Zusammenhang. In einigen Skulpturen erkenne ich klassische Architekturformen oder kunstgeschichtliche Stile, allerdings in neuer Interpretation. So scheint ein Renaissancebau gerade in sich zusammengesunken zu sein, eine gotische Kathedrale zuerst gesprengt und jetzt, in Form einer Rakete, wie Phönix wieder aufzusteigen, und die kubistische Kirche in asiatischer Papierfalttechnik entstanden zu sein. Um die „Raketen-Kathedrale“ sind zusätzlich Rosenkränze drapiert. „Soll sie hiermit religiös aufgeladen werden? Oder anders gefragt, setzt sich ihre Kunst mit Religion auseinander?“, möchte ich wissen. „Meine Kunst setzt sich mit allem auseinander, was mit uns Menschen zu tun hat. Religion gehört ebenso dazu wie die Auseinandersetzung mit architektonischen Formen. Beides begleitet und spiegelt die Entwicklungsgeschichte der Menschheit. Die Rosenkränze sind hier allerdings ein bisschen Spielerei“, lautet die Antwort von Thomas Virnich, begleitet von einem Blick der besagt „Muss-man-alles-nicht-so-ernst-nehmen“.
Bild 1: Blick in den „Lager“raum _ Bild 2: Petersdom (2004) – Bild 3: Basilius-Kathedrale (2003) – Bild 4: Kubistische Kirche (2015)
Eine besondere Welt, nämlich seine ganz persönliche Welt, zeigt er mir in seinem Büro. Strahlend und augenzwinkernd präsentiert er die bunte Kugel, die von der Decke hinabhängt (s. Titelfoto). „Das ist mein Planet Schule.“ Auch hier scheint er das vormals symmetrische und geordnete Gebäude zunächst gesprengt, dann die Einzelelemente modelliert und abschließend in einer neuen runden Form wieder zusammengefügt zu haben. An dieser Stelle fällt mir ein, dass sein Vater Schulrektor und Kunstlehrer war. Es musste doch reizvoll gewesen sein, ausgerechnet an einem solchen Ort sein Atelier einrichten zu dürfen. „Ja. In der Tat. Schon als Kind habe ich mit meinem Bruder [dem Maler Prof. Winfried Virnich, Anmerkung EB] gemeinsam im Kunstraum der Schule werkeln dürfen. Damit sind schöne Erinnerungen verbunden“, bestätigt er mir.
Bild 1: Planet Schule (2002) – Bild 2: Elke Backes und Thomas Virnich
Auf der Grundlage existierender Formen entstehen erste Modellagen, die dann in einem experimentellen Prozess, häufig durch Weglassen und Zerlegen, zu neuen Formen finden. Bezogen auf Abstraktion vollzieht sich also zwar eine Reduzierung der ursprünglichen Form, aber keine stilistische Reduzierung. Es handelt sich hierbei eher um einen klassischen bildhauerischen Entstehungsprozess. Die neue Form ist dann zwar abstrakt, lässt aber immer noch deutlich Gegenständliches erkennen. Insgesamt also fließende Übergänge! Aber wird vielleicht im Sinne eines Abstraktionsprozesses etwas Wesentliches, eine gemeinsame Kernaussage in seinen Arbeiten herausgestellt?
Schützen und Umhüllen seien von zentraler Bedeutung innerhalb seines Werkschaffens, betonte er mehrfach auf unserem Rundgang. Ist darin vielleicht die gemeinsame Kernaussage verborgen? Ob Haut, Höhle, Haus, Raumschiff, Gestein oder Natur – alles schützt und umhüllt irgendwen oder irgendetwas, blitzt es gerade in meinem Kopf auf. Doch denken wir bei der Betrachtung seiner Formen und Figuren an Schutz? Geschützt fühlen wir uns doch in geschlossenen Räumen, denen ein statisch sicheres Gerüst zugrunde liegt. Hier sehen wir hingegen geöffnete Formen, die sich demonstrativ von jeder statischen Ordnung lösen, die buchstäblich unsere Welt auf den Kopf stellen, ihre Stabilität ins Wanken bringen.
Doch erstaunlicherweise nehmen wir diese Instabilität gar nicht wahr, weil die Betrachtung dieser bunten, fantastischen, skurrilen Welten uns geradezu beflügelt. Ist es vielleicht die Fantasie, die uns Thomas Virnich erhalten möchte, damit diese uns schützen und umhüllen kann, die uns dazu beflügeln kann unsere eigene Welt ein bisschen bunter zu gestalten?
„… ich mach mir die Welt, widewide wie sie mir gefällt … “ summe ich beschwingt als ich das Ateliergelände verlasse. Ist es Zufall, dass ich gerade wieder an meine Lieblingskindersendung denke?
Weitere Informationen
… zum Künstler: http://thomasvirnich.de