Wann und wo beginnt Existenz?
Fotos: Sarah Schovenberg
Köln-Mülheim. Mein heutiges Ziel führt mich in das Areal ehemaliger, unmittelbar am Rheinufer gelegener Industriehallen. Hier befindet sich das Atelier von Jan Glisman. Bekannt wurde der Künstler insbesondere durch spektakuläre Aktionen, mittels derer er für seine bildhauerischen Arbeiten unvorhersehbare Prozesse in Gang setzte. Doch hierzu später mehr …
Mit meiner verfrühten Ankunft sorge ich zunächst für Hektik. Während Glisman von einer Ecke in die andere flitzend die letzten Aufräumaktionen erledigt, verschaffe ich mir einen entspannten ersten Eindruck vom Atelierraum. Eyecatcher ist eine riesige Skulptur, die in zentraler Position nahezu die Hälfte der Gesamtfläche des Bodens einnimmt. Farbe, Struktur und Form erinnern an die Überreste eines Baumes: in der Mitte der sauber abgesägte Stumpf, umrahmt von den ausgetrockneten Holzflächen seines Stammes, die zum Zentrum der Arbeit hin aufgerissen den Rotorblättern eines Hubschraubers ähneln. Mein Tastbefund ermittelt jedoch eindeutig, dass es sich nicht um Holz, sondern um gebrannten Ton handelt. Ich schaue mich weiter im Raum um.
Einrichtung und Arbeitsgerät geben eine Mischung aus Schlosserei und Keramikwerkstatt ab. Auf einem Träger an der Wand lehnen undefinierbare Stahlkränze in unterschiedlichen Größen. Ein gesprengtes Stück schwarzen Natursteins weckt meine Neugierde, ebenso wie die kleineren allesamt organisch anmutenden Keramikarbeiten, die auf den Werkbänken zu sehen sind. Frontal an der Wand bildet die durch das Licht des Beamers projizierte Leinwand den digitalen Gegenpol zum ansonsten durch Handwerk gezeichneten Umraum. „Ich zeige gleich ein paar meiner Videos. Spätestens dann wird meine Arbeit sehr leicht verständlich werden“, erläutert Glisman den Technikaufbau.
Doch zunächst setzen wir uns zum Gespräch zusammen. „Ist diese riesige Arbeit vor uns durch eine deiner Aktionen entstanden?“, frage ich zum Einstieg. „Ja genau. Im Rahmen eines Kunstfestivals habe ich ein zwei Tonnen schweres, noch weiches Steinzeugrohr zunächst von einem Kran bis in eine Höhe von 25 Metern hochziehen und dann abstürzen lassen. Dabei ist diese unglaubliche Form entstanden, die ich dann in einem Industrieofen habe brennen lassen“, erklärt Glisman. „Wie kommt man auf eine solche Idee? Oder anders gefragt, welchen Einfluss hatte dein künstlerischer Werdegang auf diese Arbeit“, möchte ich nun wissen.
„Nachdem ich meinen Bachelorabschluss in Bildender Kunst gemacht hatte, habe ich anschließend den Masterstudiengang in Wissenschaftlicher Illustration belegt. Im Übergang verliefen die Kurse aus beiden Studiengängen zeitweise parallel. Im Rahmen der Wissenschaftlichen Illustration mussten sogenannte Infografiken gezeichnet werden. Hierzu war es unter anderem erforderlich, sich mit den Bewegungssystemen von zahlreichen, die Natur bevölkernder Lebewesen auseinanderzusetzen. Dass sich die Auseinandersetzung mit diesen auf natürliche Weise entstandenen Systemen auch in meinen künstlerischen Versuchen niederschlug, wurde mir eines Tages ganz deutlich bewusst. Ich hatte Reste von Tonklumpen in Wasser aufgelöst, mit Zellulose angereichert und dann das Ganze in einer ausrangierten Teigmischmaschine zu einem Schlammgemisch aufbereitet. Nachdem ich diesem Gemisch dann das Wasser entzogen hatte, hatte ich eine gummiartige, extrem belastbare Masse entwickelt. Doch leider keine eine Ahnung, was ich damit anstellen sollte. In einer Spaßaktion entstand dann die Idee, diesen Ton-Gummihaufen auf einem Holzbrett anzupappen und aus dem Dachfenster des vierten Stockwerkes der Kunstakademie herunterzustürzen. Dabei passierte etwas für mich völlig Unfassbares: Die Platte schlug genau lotrecht auf dem Boden auf, das im Material verbliebene Wasser schoss heraus und das Gemisch bildete ein Rund, ähnlich einer Wasseroberfläche, in die zuvor ein Stein hineingeworfen wurde – wie eine Öffnung, die zwei Welten miteinander verbindet. Das Gefühl, dass mich bei diesem Anblick erfasste, kann ich kaum beschreiben. Ich spürte einfach, dass ich mein erstes Kunstwerk geschaffen hatte.“
„Seit diesem Zeitpunkt faszinieren mich Experimente mit Materialien, die als solche natürlichen Prozessen untergeordnet sind und die ich im Rahmen meiner künstlerischer Prozesse scheinbar zum Leben erwecken kann“, gibt Glisman mit leuchtenden Augen sein Schlüsselerlebnis preis. „Die Kernfrage, die mich seither beschäftigt lautet: Wann und wo beginnt Existenz?“
Trailer Trumpets of Jericho
Ich schaue wieder auf den Koloss zu unseren Füßen. „Die Methode des Herunterstürzens musste dann aber doch noch etwas weiterentwickelt werden“, schlussfolgere ich. „Ja klar. Hierfür habe ich zunächst einmal diese Stahlkränze konstruiert“, er zeigt auf jene Kränze, die ich eben noch nicht einordnen konnte. „Darin werden die noch weichen, ungebrannten Steinzeugrohre eingefasst. Um die Gesamtlast kontrolliert in die Höhe ziehen und auch herunterstürzen lassen zu können, tüftelte ich dann ein kombiniertes System mit einem Elektromagneten aus. Die Kraft des Magneten setzt letztlich zu der durch das Magnetfeld bedingten Schwerkraft der Erde einen Gegenpol.“
Demnach das natürliche System überlistet, denke ich. „Und die Innenmodulationen dieser Skulpturen sind dann auf das Kreuz des Stahlkranzes zurückzuführen“, frage ich ungläubig, währenddessen ich die wunderschönen kreuzblumenartigen Formen im Inneren des „Baumstumpfes“ betrachte. „Ja genau. Die gesamte Energie wurde im Material entladen und entwickelte hierbei, ungeachtet jeder kontrollierten Vorbereitung, ein Eigenleben und diese neue Daseinsform“, erläutert Glisman den bildhauerischen Prozess.
„Was man von diesen Bruchstücken eher nicht behaupten kann“, wir schauen uns gemeinsam die gesprengten Natursteinblöcke an, „was ist hiermit passiert“, frage ich. „Hierbei handelt es sich um eine Installation, die ich für einen speziellen Ort entwickelt habe. Diese war auf die Architektur des Hochbunkers 101 in Köln ausgerichtet. Als Material verwendete ich hierfür Teile einer durch Fliegerbomben beschädigten Grabeinfassung, die früher auf dem Kölner Friedhof Melaten verlegt gewesen waren. Die einzelnen Blöcke hatte ich mit Bohrungen versehen und schließlich an einer Stahlkonstruktion im Bunker frei schwebend montiert. Innerhalb der fünfwöchigen Ausstellungszeit wurden die Blöcke dann mithilfe eines Quellsprengstoffes in Etappen von mir gesprengt. Auch hierbei wirkten erneut natürliche Prozesse auf die Arbeit ein.
Für den Vorgang sowie auch für die Videoaufnahmen war es von entscheidender Bedeutung, die Reaktionszeit von der ersten Rissbildung bis zum endgültigen Fall des abzusprengenden Stückes zu kennen. Ich hatte deshalb vorbereitende Tests hier in meinem Atelier durchgeführt. Im Bunker habe ich dann allerdings feststellen müssen, dass die atmosphärischen Einwirkungen – also Luftfeuchtigkeit, Temperatur, etc. – dort völlig andere Reaktionszeiten hervorriefen. Um den Fall eines Gesteinsbrockens nicht zu verpassen, setzte ich für die Filmaufnahmen ein Videosystem ein, das von einer Sicherheitssoftware gesteuert wurde. Dieses Programm startet die Aufnahme der Kameras erst mit dem Einsetzen einer Bewegung. Die Qualität dieser Aufnahmen war jedoch unzureichend und so blieb mir nichts anderes übrig, als im Bunker zu übernachten, um das System manuell zu steuern. Verdammt gruselig, sage ich dir“, verrät Glisman. Er zeigt das Video, das in der Tat Gruselpotential enthält.
Trailer Kon_Takt
In einem anderen Bereich des Ateliers fallen mir schwarz-glitzernde Keramikskulpturen auf. In ihrer Farbigkeit erinnern sie an Gestein mit vulkanischem Ursprung. Sie wirken im Vergleich zu den übrigen Arbeiten geradezu spröde und morbid. Hier wurde dann wohl ausnahmsweise mal klassisch gearbeitet, denke ich. Ton geformt, gebrannt und dunkel glasiert. Aber nein. Damit liege ich total falsch! „Ich habe eine Arbeitsmethode mit Keramik entwickelt, die absolut nicht der klassischen Methode entspricht“, werde ich aufgeklärt. Die einzelnen Komponenten einer Arbeit werden nicht durch den Verarbeitungsprozess zusammengefügt, sondern durch den Brennprozess zusammengeschmolzen. „Soll heißen, die einzelnen Elemente dieser Skulpturen sind demnach nicht bildhauerisch geformt, sondern im Ofen entstanden? Lediglich die Grundform – wie beispielsweise hier diese Kugel – ist geplant“, frage ich nach. „Genau. Es liegt am Rezept beziehungsweise an der chemischen Zusammensetzung des Materials, sowie an der Programmierung der Brennkurve für den Computer, der den Brennprozess im Ofen steuert.“
Keramikarbeiten
Glismans Inspirationen scheinen sich tatsächlich durchweg aus der vielfältigen Auseinandersetzung mit den Materialien zu entwickeln. Doch wie lässt sich dann sein aktuelles Projekt erklären? Für eine Ausstellung im Vorgebirgspark Köln entwickelte er ein schwebendes Zelt. Während seine bisherigen Aktionen davon gekennzeichnet waren, Materie auf die Erdoberfläche zuzubewegen, setzt er hier die Gravitation scheinbar außer Kraft.
Video zum schwebenden Zelt “Sind wir gleich da?”
Wie passt das alles zusammen, frage ich mich abschließend. Ich erinnere mich an die zentrale Fragestellung seiner Arbeit. Wann und wo beginnt Existenz? Was genau verbirgt sich dahinter? Jan Glisman arbeitet bevorzugt mit ursprünglichen, durch die Natur gegebenen Materialien. Mit seinen Gravitationsarbeiten demonstriert er die Naturgewalt der Erdanziehungskraft, seine Performance im Bunker visualisierte die Grenzen des menschlichen Schutzes. Den ältesten Schutzbau der Menschheit – das Zelt – lässt er hingegen schweben …?
Es ist eine Mischung aus Kontrolle und Machtlosigkeit, die sich in seinen Arbeiten spiegelt. Eine Mischung, die letztlich unser Dasein prägt. Gleichzeitig symbolisieren seine Arbeiten aber auch auf eine spannende Art und Weise Transformationsprozesse – Übergänge in etwas Unbestimmtes, geradezu wundersam Neues. In der Frage wann und wo Existenz beginnt, ist doch auch die Frage verborgen, wann und wo sie endet oder vielleicht wohin sie führt, denke ich gerade.
Vielleicht geschützt und schwebend in eine neue Daseinsform …?
Weitere Informationen
… zum Künstler:
www.jan-glisman.com
facebook.com/janglisman.art
instagram.com/jan_glisman
vimeo.com/janglisman
… über die Ausstellung im Vorgebirgspark Köln: