Fotos: Karl Rogers
Johannesburg. Noch niemals zuvor in meinem Leben habe ich so viele Zäune und Mauern, meist noch von Starkstromleitungen getoppt, und so wenige Fußgänger gesehen. Seltsamerweise gibt es ebenso wenig geparkte Autos. Dass Johannesburg durch eine hohe Kriminalität und massive gesellschaftspolitische Probleme belastet ist, hatte ich natürlich schon gehört. Menschen kennenzulernen, die hier aufgewachsen sind und sich künstlerisch mit Themen des Lebens in dieser Stadt auseinandersetzen, ist dann allerdings etwas anderes, wie ich heute feststellen werde.
Ich besuche den 24-jährigen Chris Soal, einen DER Upcoming-Artists, die das neue Südafrika (24 Jahre nach Ende der Apartheid) in ihren Arbeiten repräsentieren. Der Verlauf seiner jungen Karriere ist rasant. Nach einigen Nominierungen noch während seines Studiums an der Witwatersrand University in Johannesburg, erhielt er 2018, nur drei Monate nach seinem Bachelorabschluss mit Auszeichnung, seinen ersten Kunstpreis (PPC Imaginarium Award). Stiftungen wurden auf ihn aufmerksam und ermöglichten ihm noch im selben Jahr die Teilnahme an gleich zwei Artist in Residence-Programmen. Es folgten Gruppen- und Einzelausstellungen in Institutionen und Galerien und der Einzug in bedeutende Sammlungen.
Sein Atelier ist – glücklicherweise noch ganz bodenständig – in der Garage seines Elternhauses eingerichtet.
Einblicke ins Atelier
Das Haus befindet sich in einem bürgerlichen Wohngebiet. Auch hier: keine Fußgänger, keine geparkten Autos. Man klingelt, das Tor wird geöffnet, man fährt auf das Grundstück und das Tor wird wieder geschlossen. Die erste wichtige Verhaltensegel „Stay behind the gate!“, die mir bei Ankunft in meinem Guesthouse vermittelt wurde und mich das gesamte Wochenende immer wieder Gehirnwäsche-mäßig verfolgen soll, kommt mir gleich wieder in den Sinn.
Die leicht beklemmende Atmosphäre wird in dem Moment neutralisiert, als Chris freudestrahlend aus dem Haus tritt und zunächst einmal zu Kaffee und Gebäck hereinbittet. An den Wänden sind viele seiner außergewöhnlichen Wandskulpturen zu sehen. Innerhalb der eher gediegenen Einrichtung wirken sie fast ein bisschen surreal, demonstrieren aber umso stärker den offensichtlichen Stolz der Eltern auf den Erfolg ihres Sohnes.
Wir gehen hinaus zu seinem Arbeitsplatz. Ins Auge springen zunächst einmal seine neuesten Bottle-top-works (klingt einfach cooler als ‚Kronkorken-Arbeiten‘). Das Material gibt sich als solches zunächst einmal überhaupt nicht zu erkennen. Die spiralmäßig gedrehten Stränge erinnern mich eher an eingefärbte Korbgeflechte. Die Formen und Farben – insbesondere das Gold, Silber und Dunkelgrün – strahlen etwas typisch Afrikanisches aus, das mich an traditionelle Gewänder, Schmuck oder kostbare Dekorationen denken lässt. Aber Kronkorken von Bierflaschen?
Bottle-top-works, Bild rechts: If wishes were fishes we’d all cast nets (2019)
Chris lenkt meine Aufmerksamkeit auf jene Skulptur, mit der er seinen Kunstpreis gewonnen und die er gerade dem Käufer zum zweieinhalbfachen Satz wieder abgekauft hat.
„Das war ein bisschen blöd von mir“, gibt er lachend zu. „Aber ich hätte nicht gedacht, dass die Arbeit für mich einen so hohen sentimentalen Wert entwickeln würde.“
Es ist die Konstruktion eines abgewetzten, luftentleerten Fußballs, geformt aus Zement, der von einer gebogenen Stahlstange durchspießt ist.
„In dieser Skulptur wird sehr viel gespiegelt, was mit Johannesburg, aber auch mit Südafrika insgesamt zu tun hat. Fußball wird hier überwiegend auf den privaten Grundstücken, nicht auf öffentlichen Plätzen gespielt. Aufgrund der Umzäunungen mit Stacheldrähten dauert es meist nicht lange, bis der Ball so aussieht wie dieser hier. Deshalb handelt es sich um eine typische Erfahrung von Kindern, die in Johannesburg aufwachsen. Gleichzeitig verweise ich mit der Skulptur auf die Debatte rund um die FIFA Weltmeisterschaft 2010. Welchen Benefit hat sie tatsächlich dem Land gebracht, was passiert mit den Stadien, die mittlerweile schon etwas von einer monumentalen Abwesenheit verkörpern?“, erklärt Chris die Hintergründe, und schon sind wir mitten im Interview.
Imposed structure to the detriment of the members [Deflated], (2018)
Welche Rolle spielt das Material in dieser Arbeit?
Chris: Die Materialwahl ist, wie in allen meiner Arbeiten, von großer Bedeutung. Ich spiele damit, es in anderen Zusammenhängen und Formen darzustellen, als wir es kennen. Zement ist ein hartes, statisches Material, das sich vor allem in architektonischen Konstruktionen findet … deshalb ist die Verwendung auch ein Verweis auf die oft heruntergekommenen Betonwüsten der Hochhäuser, die das Stadtbild Johannesburgs im Zentrum prägen. In der Skulptur hier erscheint das Material aber plötzlich als etwas Weiches und Dynamisches.
Finden sich solche Anspielungen dann auch in deinen Bottle-top-Arbeiten? Was hat dich auf diese Idee gebracht?
Chris: Ausgangspunkt war wieder der bewusste Blick in die Stadt. Vor allem in Downtown haben wir ein riesiges Müllproblem. Es wird einfach alles auf die Straße geworfen – so auch gigantische Mengen von Kronkorken, die sich sogar als Abdruck im Asphalt finden. Zunächst war es die Form, die mich inspirierte. Ein einzelner Kronkorken, der in zwei Hälften gebogen war, erinnerte mich an die „Zähne“ einer Muschel, an die Unterseite einer Kauri. Ich sammelte sie in Bars und Trinkhallen der Stadt, bis mein Studio fast nur noch aus Kronkorken bestand, und begann dann zu experimentieren. Vor dem Hintergrund der Fragestellung, was die Materialien über die menschliche Existenz und Gesellschaft aussagen, entstanden dann nach und nach immer wieder neue Varianten von Skulpturengruppen.
Kannst du diese Fragestellung am Beispiel der Kronkorken näher erläutern?
Chris: Klar, gern. Ausgehend von der Frage, welche Geschichte und Informationen sich in einem Abfallprodukt des Bierkonsums finden, machte ich mich zunächst einmal auf den Weg in eine Produktionsstätte von Kronkorken und habe mir den industriellen Fertigungsprozess angeschaut. Die Bleche mit den unterschiedlichen Labelprints faszinierten mich vor dem Ausstanzen ebenso, wie die Abfallprodukte, die nach dem Ausstanzen zurückblieben. Beim Druckwechsel und der hierfür erforderlichen Reinigung der Druckmaschinen entstanden aus den verschiedenen Logos Bleche mit überlagerten Mustern. Sie sahen aus wie Textilien mit afrikanischen Mustern [wie das lokale Shweshwe-Tuch], der Abfall der verarbeiteten Bleche sah aus wie ausgestanztes Gold. Darin erkannte ich plötzlich zwei unserer wesentlichen Industrien. Die Textilproduktion und natürlich den Goldabbau, ohne den die Stadt Johannesburg niemals gegründet worden wäre. Zwei Industrien, deren Arbeiterschaft darüber hinaus in der Textilindustrie geprägt ist von Frauen und im Goldabbau von Männern und leider auch zwei Industrien, die sich in massiven Krisen befinden. Nach und nach entdeckte ich also wesentliche Eigenschaften unseres Gesellschaftsbildes in einem industriellen Produkt wie dem Kronkorken. Eigenschaften, die sich letztlich innerhalb des künstlerischen Prozesses in unterschiedlichen skulpturalen Formen wiedergefunden haben und auf diese Weise einen Dialog zwischen Industrie und Gesellschaft herbeiführen.
Bilder links: (unten) Restmüll nach dem Ausstanzen, (oben) Terrikon fraction (2017)_ Bilder rechts: Bound, (2017) (unten Detailansicht)
Soviel zur Frage, was Materialen über die Gesellschaft aussagen können. Inwiefern finden sich in deinen Skulpturen auch Auseinandersetzungen um die menschliche Existenz?
Chris: Zum einen über der Wiederholung gleichartiger Objekte. In der Gesamtbetrachtung scheinen die Einzelobjekte ihre Bedeutung zu verlieren. Doch ist für die Entwicklung des Gesamtbildes jedes Einzelne von großer Bedeutung. Die Wiederholung gleichartiger Objekte ist deshalb für mich zu einer Methode geworden, die gegenseitigen Abhängigkeiten von Individuum und Gemeinschaft abzubilden. Zum anderen finden sich Raum, Zeit und Licht – wesentliche Komponenten für die menschliche Existenz – in meinen Skulpturen berücksichtigt. Der Lichteinfall und die Bewegung des Betrachters im Raum bewirken völlig unterschiedliche Wahrnehmungen. Bekannte Wahrnehmungsmuster beziehe ich deshalb bereits in die Entwicklung meiner Arbeiten mit ein. Letztlich verkörpern die Objekte, die ich verarbeite, auch Relikte und Spuren einer kulturellen Vergangenheit und spiegeln den Wertewandel im Verlauf der Zeit.
Stellar Core Remnant, (2017)
Vielfach lassen sich diese Gedanken auch auf deine toothpick-(Zahnstocher-)Arbeiten übertragen. Ich gehe aber davon aus, es sind keine Relikte der Vergangenheit?
Chris: Oh nein [lacht]! Alle frisch. Im Moment gibt es sogar Lieferengpässe. In ganz Südafrika gibt es keine verpackten Zahnstocher mehr. Kein Witz! Der Nachschub hängt wegen Streiks am Hafen von Durban fest.
Ein Blick auf die Masse der verarbeiteten Zahnstocher lässt keine Zweifel an dieser Aussage aufkommen … Ich schaue mir die Arbeit aus etwas größerer Entfernung an. Es ist erstaunlich. Erneut lese ich das Material als etwas anderes, als es ist. Wieder führen Form und Farbe in die Irre. Die großformatigen Skulpturen sehen aus wie kuschelig weiche Tierfelle, die kleineren wie scharfkantige Korallen.
Welche Gedanken haben dich zu diesen Arbeiten geführt, frage ich Chris.
Bild links: “Lament (We thought the good times would never end)” 2019 (courtesy the artist and WHATIFTHEWORLD Gallery). Bild rechts: Toothpick works im Atelier.
Chris: Wieder waren es Fragen der kollektiven Lebenserfahrung. In diesem Fall ging es um das komplizierte Verhältnis zur Natur. Obwohl der Mensch von ihr abhängt, versucht er sie aus Angst und Gier zu beherrschen. Ersteres wird unterschätzt und letzteres um ein sehr gefährliches Maß übertrieben.
Abschlussfrage: Hast du nicht Sorge irgendwann keine Kronkorken oder Zahnstocher mehr sehen zu können?
Chris: Glücklicherweise im Moment noch nicht. Dafür gibt es zwei entscheidende Gründe: Ich arbeite immer im Team. Da ist Abwechslung garantiert und gleichzeitig ein vielseitiger Input, der in die Ideenentwicklung einfließt. Außerdem arbeite ich immer an mehreren Projekten gleichzeitig. Hierbei kombiniere ich gern meine zentralen Materialien miteinander oder mit irgendetwas, das mir plötzlich begegnet und mich zu neuen Experimenten inspiriert. So entwickeln sich letztlich immer wieder neue Interpretationen, die eine Langeweile verhindern. [ergänzt er augenzwinkernd]
Bild links: But I still haven’t found what I’m looking for (2019), Bild rechts: Climb into someone else’s skin and walk around in it (2018)
Ist in Chris Soals zentraler Fragestellung, was Materialien über die Gesellschaft und die menschliche Existenz aussagen, nicht auch eine Auseinandersetzung mit dem Skulpturbegriff enthalten, frage ich mich rückblickend. Er zeigt auf, dass jedes Material zur Skulptur werden kann und unterstreicht hiermit die im beginnenden 20. Jahrhundert von der Avantgarde konzipierte Idee des Objet trouvé*. Darüber hinaus lässt er über die Irritation, die sowohl das Material als auch die Form hervorrufen, eine andere wesentliche Eigenschaft der Skulptur für den Betrachter erlebbar werden. Er fordert uns heraus, sich ihr über unsere eigene Bewegung aus verschiedenen Perspektiven zu nähern. Diese Bewegung ist die Voraussetzung, um ihre Dreidimensionalität wahrzunehmen zu können, die immer in Abhängigkeit zu einem dreidimensionalen Raum steht. Nicht zuletzt kann noch die Vielzahl der verschiedenen Interpretationen, die innerhalb einer seiner Werkgruppen entstehen, als Spiegel für das unvorhersehbare Prozesshafte in der Bildhauerei gelesen werden.
Zusammengefasst treffen hier also Eigenschaften des Objet trouvé auf grundsätzliche Eigenschaften der Skulptur und reflektieren gesellschaftliche und philosophische Fragen des 21. Jahrhunderts.
Oder um es einfach einmal plakativ auszudrücken: Objet trouvé goes future …
*ein gefundenes Objekt wird wie ein Kunstwerk behandelt
Weitere Informationen
… über seine Galerie: WHATIFTHEWORLD Gallery: https://www.whatiftheworld.com/artist/chris-soal/
Nächste Ausstellung in der Whatiftheworld Galerie am 28. Januar 2021
… dem Künstler folgen: https://www.instagram.com/chris_soal_.pdf.jpg.mp4.art/