Text: Dr. Elke Backes
4.10.2023. Ein Tag ist vergangen, seitdem mich die Weltpremiere des Tanzspektakels New Ballet mécanique (choreografiert von Richard Siegal) und Wiederaufnahme von Half life (choreografiert von Sharon Eyal), ebenso wie alle übrigen Zuschauer in Trance versetzt hat.
Wie soll ich diese fantastischen Inszenierungen nur in Worte fassen? Ballett, einmal im Dialog mit der Klang-Rauminstallation des Künstlers Zimoun und dann im Dialog mit harten Technobeats von Gai Behar. Was für ein Kontrast!
Welche Verbindung gibt es zwischen diesen auf den ersten Blick so völlig unterschiedlichen Stücken und warum hat sich Jan Vandenhouwe, der Intendant der Opera Ballet Vlaanderen für diese außergewöhnliche Kombination entschieden?
Oben: Szenenbild aus New Ballet mécanique, unten: Half life (Fotos: Filip van Roe).
Der Titel New Ballet mécanique gibt den ersten Hinweis: Es handelt sich um eine Referenz zum Original Ballet mécanique, einem dadaistischen Stummfilm von Fernand Léger, Man Ray und Dudley Murphy aus dem Jahr 1924. Die Begleitmusik, komponiert von George Antheil, gilt als Wendepunkt in der Musik des 20. Jahrhunderts. Der Film entstand zum Höhepunkt der industriellen Revolution und zeigt die Grenzen auf zwischen Mensch und Maschine. Nahezu einhundert Jahre später befinden wir uns in der Ära der digitalen Revolution. Wie haben sich die Bewegungen des Tanzes verändert? Passt das klassische Ballett noch in unsere Zeit und welche Funktion übernimmt dabei die Bühne?
Für Zimoun, dessen ortsspezifisch, meist raumgreifend entwickelte Arbeiten bedeutende Kunstorte auf der ganzen Welt bespielen, ist es die erste Inszenierung auf einer Bühne. Bekannt ist Zimoun für seine Verwendung von schlichten Alltagsgegenständen, die durch ihre vielfache Wiederholung eine Architektur entwickeln und über die Nutzung kinetischer Prinzipien Bewegung und Klang erzeugen.
Bei New Ballet mécanique sind es überdimensioniert große Pappkartons und Fässer, die über ihre Bewegung mit der Choreographie und Bühne interagieren und dabei Industriehallen-ähnliche Sounds produzieren. Die Objekte scheinen ein Eigenleben führen und die Bühne dominieren zu wollen, die sich die Tänzer immer wieder zurückzuerobern versuchen. Ist ein solcher Moment erreicht, setzt die Geräuschkulisse aus und einzig die leichtfüßigen Schritte und der Atem der Tänzer sind hörbar. Momente, die dann wieder lautstark vom Angriff der nächsten Objektformation abgelöst werden. Wird hier vielleicht der Kampf zwischen Mensch und Maschine erzählt?
In Kombination zum perfekt von Matthias Singer gesetzten Licht und den sanft, die Körper der Tänzer umfließenden Kostüme von Flora Miranda [s. auch ART DIALOG v. 30.8.2023], werden bei diesem Storytelling offensichtlich alle Möglichkeiten des Theaters und der Bühne genutzt. Oder, wie Richard Siegal es ausdrückt: „… wird die Bühne in der Funktion einer Maschine zum Ausgangspunkt genommen, als eine Zauberbox, die man bewegen kann.“
Szenenbilder aus New Ballet mécanique (Fotos: Filip van Roe).
Nach der Pause folgt der Gegensatz: Kein Bühnenbild, nahezu transparente Kostüme, pointierte, fokussierte Lichtsetzung auf die Tänzer, pulsierender Technosound und los geht’s mit Half life …
Der gewaltige Sound, komponiert von Gai Behar wird in Sharon Eyals Choreografie von den Tänzern buchstäblich verkörpert. Jede kleinste, in der Präzision einer Maschine ausgeführte Geste, wirkt wie ein auf den jeweiligen Beat reagierender Impuls. Wie ferngesteuert, stakkato-artig oder fließend in der Bewegung scheinen sich die Tänzer im Wechsel in eine Armee von Robotern oder in gigantische Sciencefiction-Insekte zu verwandeln.
Szenenbilder aus Half life (Fotos: Filip van Roe).
Während im ersten Stück die mechanische Technologie die Bühne dominiert hat, ist es bei Half life offensichtlich die Digitale, die das Feld zu beherrschen sucht und den Kampf zwischen Mensch und Maschine in diesem Zeitgeist erzählt. Eine Verbindung, die sich vor allem über den starken Kontrast der Inszenierungen im Rückblick zu erkennen gibt.
Und welche Rolle übernimmt das Ballett selbst in diesen Erzählungen?
Ich frage die Tänzer:innen Kirsten Wicklung und Shane Urton und den Choreographen Richard Siegal, der parallel zu diesem Spielplan mit seinem Ballet of Difference in Köln die erste Premiere der neuen Saison vorbereitet [Infos s. Link am Ende des Artikels].
Links: im Gespräch mit Richard Siegal, rechts: mit Kirsten Wicklung und Shane Urton.
E.B.: Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Technologie und dem Tanz?
Richard Siegal: Absolut. Und das hat vor allem mit den heutigen Möglichkeiten zur Erforschung des menschlichen Bewegungsapparates zu tun. Die Erkenntnisse aus der Biomechanik, der Wissenschaft über den Körper, haben das menschliche Bewegungspotential explodieren lassen. Der Krafteinsatz, die Präzision und die Koordination, die wir heute gesehen haben, wären vor einhundert Jahren nicht möglich gewesen.
E.B.: Ist die Präzision des Tanzes in beiden Stücken auch eine Demonstration dessen, dass wir nach den gleichen Prinzipien funktionieren wie eine Maschine?
Kirsten Wicklung: Ja und nein. Der große Unterschied zur Maschine besteht darin, dass der menschliche Körper auch einer Tagesform unterliegt. Es gibt deshalb keine kontinuierliche Perfektion. Für uns heißt es daher, sich immer wieder neu darauf einstellen zu müssen.
Shane Urton: Eine Gemeinsamkeit zur Maschine lässt sich bei Half life allerdings in der Kontrolle über die Energie finden. Diese gewaltige Energie, die die Grooves der elektronischen Musik bei uns entlädt, fordert uns zum exzessiven Tanzen heraus. Doch müssen wir uns – um die Spannung aufrechtzuerhalten – immer wieder zurückziehen und dieser Energie widerstehen.
Definitiv eine gewaltige Energie, die sich hier im Zusammenspiel aller Beteiligten auf der Bühne entladen hat. Einer Bühne, die sich bei diesen Inszenierungen auch selbst als ein zentrales Rad im Getriebe zwischen Mensch und Maschine zu erkennen gegeben hat – als eine bewegliche Zauberbox, die auf professionellste Art und Weise bespielt wurde.
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Weitere Informationen
Infos zu den nächsten Vorstellungen: https://www.operaballet.be/en/programme/season-2023-2024/new-ballet-mécanique-half-life
über Zimoun: https://www.zimoun.net/
Premiere NOISE SIGNAL SILENCE des Ballet of Difference am 27.10.2023 im Schauspiel Köln, Depot I: https://balletofdifference.com/agenda
ART DIALOG mit Flora Miranda: https://www.elkebackes-artdialog.com/generatives-design-in-seiner-magischsten-form-flora-mirandas-haute-couture-traumwelten-zwischen-technologie-mode-und-kunst/