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Fotos: Natascha Romboy, Nathalie Vanheule, Louise Mae, Sepideh Farvardin, Jana Pollet
Wie lässt sich eigentlich poetische Kunst erklären? Eigenartigerweise nicht mit Worten. Man erspürt sie. So geschehen beim Anblick der Instagram-Abbildungen von Nathalie Vanheule. Schon ein kurzer Blick hatte genügt, um die emotionale Kraft ihrer Arbeiten, die sich zwischen Performances, Skulpturen und Videoarbeiten bewegen, unmittelbar zu fühlen. Diesem Phänomen auf der Spur, fahre ich gespannt nach Kortrijk in Belgien, um die Künstlerin persönlich kennenzulernen.
Schon beim Betreten ihres Ateliers wird klar, dass sich das Poetische auch in der Atmosphäre des Raumes spiegelt. Umrahmt von Biedermeier-Mobiliar und einem wunderschönen stuckverzierten Kamin präsentieren sich ihre Kunstwerke in einer Kulisse, die an Bühnenbilder romantischer Schauspiele erinnert.
Einblicke ins Atelier.
Und Nathalie Vanheule selbst? Sie scheint das Poetische buchstäblich zu verkörpern. Auch wenn es jetzt übertrieben klingen mag: Sie hat etwas Engelhaftes.
Schon bei unserer Begrüßung fühlt es sich an, als würden wir uns schon sehr lange kennen. Ein Gefühl der Verbundenheit, das sich im Laufe unseres Gesprächs wie selbstverständlich weiter ausprägen wird.
Im Gespräch mit Nathalie Vanheule.
Schnell wird deutlich, wie stark ihr Werk und ihre Person in Verbindung stehen. Es wächst förmlich aus ihr heraus. Während ich noch davon ausgegangen war, dass es sich bei ihren neuesten Arbeiten um Gemälde auf Leinwand handeln würde, werde ich von der Aussage überrascht, dass der Malgrund Sandpapier ist, und die Bewegungen ihres mit Bodylotion und Make-up eingeriebenen Körpers die Motive gebildet haben.
Beispiele von Nathalies Sandpapier-Arbeiten. O.r. Aufnahme, entstanden während eines Entstehungsprozesses.
Nathalie: Die Motive sind Spuren meiner auf das Material übertragenen Emotionen. Je nach Stimmung entstehen kräftigere oder zartere Farbflecken, die sich bildhaft ausformen. Ich möchte Spuren des Lebens zeigen und damit etwas enthüllen, das wir eher versuchen zu verbergen. Im Streben nach der perfekten Schönheit und dem perfekten Leben bewegen wir uns häufig nur an der Oberfläche. Dunkle Momente und Vergänglichkeit werden verdrängt und übertüncht.
In meinen Sandpapier-Arbeiten finden sich diese Gedanken auch über das Material reflektiert. Sandpapier, besser als Schleifpapier bekannt, sowie Make-up werden zur Verschönerung von Oberflächen produziert. Schleifpapier wird häufig zur Glättung oder Aufrauhung von Holz eingesetzt und danach entsorgt. Bei mir wird es zum Trägermaterial und damit zum wesentlichen Element der Arbeit. Auch die Rahmung in Holz reflektiert diesen Gedanken. Ein an der Oberfläche perfektioniertes natürliches Material fasst ein sichtbar industriell gefertigtes Material ein. Sichtbar industriell deshalb, weil die Spuren der Maschinen zu sehen sind.
E.B.: Du meinst diese linearen Streifen im Hintergrund?
All Arms United (Make-up und Bodylotion auf Sandpapier, 2021) als Demonstration der technischen Spuren im Sandpapier.
Nathalie: Ja genau. Das sie zum Hintergrund werden, ist ebenfalls Teil meines konzeptionellen Gedankens. Indem ich diese Spuren mit denen meiner Bewegung überlagere, stelle ich symbolisch die Kraft der Humanität über die der Technik. Ein Wink auf unser Zeitalter, das eine immer stärkere Verschiebung dieser Kräfte aufzeigt.
Ich schaue mich um und entdecke eine Fotografie. Im starken Hell-Dunkel-Kontrast dominiert der von Seilen wild umschlungene Kopf einer Frau mit langen, hellblonden Haaren den Bildraum. Obgleich ihr Gesicht durch das Gewirr weitestgehend verhüllt wird, bleibt ihr selbstbewusster, aber gleichzeitig auch geheimnisvoller Blick erkennbar, der direkt auf den Betrachter gerichtet ist. Eine moderne Interpretation der Medusa?
Black Medusa, Mixed Media auf Kupferplatte ©Nathalie Vanheule and Louise Mae, 2020.
Nathalie: In der Tat ein Motiv aus meiner Medusa-Serie. Ebenso wie in der Erzählung der griechischen Mythologie steht ihre körperliche Schönheit im Mittelpunkt. Doch während ihr diese Schönheit in der antiken Erzählung zum Verhängnis wird und sie zunächst gewaltsam von Poseidon verführt und zusätzlich von Athene aus Eifersucht in ein Ungeheuer verwandelt wird, kann meine Medusa entscheiden, wie sie mit ihrem Körper und ihren Emotionen agiert, um im übertragenen Sinne entweder menschlich zu bleiben oder zum Ungeheuer zu werden.
E.B.: Ist es eine Art Gefangensein in den eigenen Gefühlen oder steht die Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen im Mittelpunkt?
Nathalie: Man kann beides darin sehen. Vor allem sind es negative, von außen einwirkende Emotionen – in diesem Fall Neid und Eifersucht –, denen Medusa machtlos ausgeliefert ist. Meine Milk Medusa hingegen symbolisiert die Geburt einer neuen Medusa. Sie ist eine schöne Frau, die über ihre eigenen Gefühle, ihren Körper und ihre Verführung entscheiden kann. Eine selbstbestimmte Frau, die über ihr eigenes Handeln und Auftreten entscheidet. Der Umgang mit Befreiung, Freiheit und Emotionen ist letztlich ein Thema, das viele meiner Arbeiten, oft auch meine Performances, bestimmt.
E.B.: Mit welcher Aufgabenstellung lässt sich das innerhalb einer Performance visualisieren?
Nathalie: Mit der Aufgabe, sich vollständig auf eine andere Person ein- und das eigene Ego loszulassen. Ziel ist es, die Basis für eine emotionale Verbindung und damit eine Basis für die Empathie der Person gegenüber zu schaffen. Solcherart Momente gestalte ich gemeinsam mit meinen PerformerInnen beispielsweise über lang andauernde, fast symbiotisch anmutende Umarmungen.
Beispiele von Embraces.
E.B.: Wie lässt sich bei diesem Ansatz, der offenbar eine Wandlung negativer in positive Energie anstrebt, deine Vorliebe für die Elemente Feuer und Asche erklären, die unmittelbar an Zerstörung und Tod denken lassen?
Werke entstanden mit Feuer und Asche.
Nathalie: Diese Vorliebe lässt sich über meine Biografie erklären. Ich wurde in Ypern geboren, einer Stadt, die an der Frontlinie beider Weltkriege lag und heute von englischen und kanadischen Friedhöfen umgeben ist. Zerstörung, Vergänglichkeit und Tod waren Themen, die für mich immer präsent waren.
Ich wuchs mit dem Gefühl auf, dass ich nur 18 Jahre alt werden würde. Um mit diesem Gefühl umgehen zu können, habe ich in meiner Kindheit jeden Abend gezeichnet und Gedichte geschrieben. Als dann meine Mutter wenige Wochen vor meinem 18. Geburtstag starb, bin zwar nicht ich, aber Teile meiner Persönlichkeit gestorben. Ich hinterfragte das Leben, mich selbst und musste mich völlig neu aufbauen. Fünfzehn Jahre später starben dann innerhalb einer Woche drei sehr enge Familienangehörige. Sie wurden an dem Tag beerdigt, an dem meine Tochter geboren wurde. Das Gefühl von Trauer und Verlust machte mich wie gelähmt. Meine Kunst, sowie die Unterstützung von Künstlerfreunden und meiner Familie halfen mir, diese Phase zu überwinden. In dieser Zeit verspürte ich den Drang, mit Feuer und Asche zu arbeiten. Ich realisierte immer mehr, dass Feuer zwar zerstört, aber auch erneuert. Der Tod ist eine notwendige Phase im Kreislauf der Natur, wie beispielsweise das Abbrennen von Feldern zeigt, wobei die Asche als Dünger dient. In vielen Kulturen, in Afrika, im Buddhismus und in der katholischen Kirche ist Asche ein Symbol für eine positive Veränderung in einer Zeit des Wandels.
Mit dem Bewusstsein dieser erneuernden Kraft entstanden schließlich unterschiedlichste Arten von Asche-Bildern mit Pigment oder auch Videoarbeiten.
Werke aus Asche und Pigmenten.
E.B.: Damit lässt sich sehr gut deine Videoarbeit Burning Eyes verstehen. Eine reglos am Boden liegende Frau wird sukzessive mit Asche berieselt und erwacht, als sie dicht bedeckt von Asche ist.
Stills aus der Video-Arbeit Burning Eyes.
E.B.: Doch was hat es mit den Badminton-Armen und den Federbällen hier auf sich?
Objekte und Darsteller aus der Performance Arms and Echoes.
Nathalie: Die waren Teil meiner Performance Arms and Echoes, zu der auch das schwarze Netz nebenan gehört. Die Arme am Schläger sind Abformungen meiner eigenen Arme, das Netz habe ich mit meinen Fingern mit Asche geschwärzt. Ohne an der Performance teilgenommen zu haben, war ich also auf eine subtile Art und Weise körperlich anwesend.
Meinen Performern war es zur Aufgabe gestellt, struktur- und regellos zu agieren und damit ein Spiel, das normalerweise von Regeln und Struktur bestimmt ist, zu dekonstruieren. Es war ein bisschen eine Sozialstudie in Zeiten des Covid-Lockdowns, in denen wir vollständig von Regeln dominiert waren. Super interessant zu beobachten war es, dass sich über die Interaktion wie selbstständig neue Strukturen ausbildeten. Für mich wieder ein Sinnbild dafür, dass sich über Dekonstruktion Neues und Positives ausbilden kann.
E.B.: Und dieser Schläger?
Badminton-Schläger I have never been a popular girl als Selbstportrait.
Nathalie: Der ist aus einem Spaß heraus entstanden. Ebenso wie ich mit Make-up arbeite, setze ich auch Extensions oder Wimpernverlängerungen ein. Am Schläger sind meine ehemaligen Extensions befestigt. Es ist ein isoliertes Gesicht, umgeben von Haaren, die das einzige sind, was sich bewegt. Eine Art Selbstporträt, das buchstäblich mit dem Klischee der Blondine “spielt”. Der Titel des Werks lautet: I have never been a popular girl [lacht].
Die passende Einstimmung, um uns auf das abschließende Covershooting vorzubereiten, für das wir uns mit viel Spaß, sehr girly like, in verschiedenen Outfits und Settings inszenieren.
Mein Fazit
Im Rückblick denke ich noch einmal darüber nach, was genau es ist, was das Poetische der Kunst von Nathalie Vanheule definiert. Einer ihrer zentralen Gedanken ist, die Spuren des Lebens zu enthüllen, die oft unter der Oberfläche verborgen bleiben. Im übertragenen Sinne gibt sie also Einblicke in die dunklen Seiten des Seelenlebens. Meist sogar in ihr eigenes. Ihren Körper nutzt sie dabei als Medium, um entweder unter Anwendung metaphorisch ausgesuchter Materialien oder im Zusammenspiel mit anderen Performern ihren Emotionen eine Form zu verleihen.
Interessanterweise entstehen Werke voller Sinnlichkeit und Sanftheit und nicht etwa Aggression und Schwere. Warum? Nathalie Vanheule demonstriert die Kraft des Wandels, der die Wahrnehmung der eigenen Schwächen und damit der eigenen Verletzbarkeit voraussetzt. Und genau das ist das Poetische in ihrer Kunst: Die Schönheit von Verletzbarkeit …
Weiterführende Links
Website: http://www.nathalievanheule.be
Instagram: https://www.instagram.com/nathalievanheule/