Fotos: Simon Schnocks
Heute geht es nach Antwerpen. Im Stadtteil Borgerhout besuche ich die belgische Künstlerin Anne-Mie van Kerckhoven. Ihre aktuell im Museum Abteiberg Mönchengladbach präsentierte Retrospektive What would I do in orbit? verschafft einen einzigartigen Überblick über ihr multimediales Gesamtwerk, bestehend aus Zeichnungen, Musik, Malerei, Computer- und Videokunst. Von der Ästhetik dieser Show beeindruckt, möchte ich bei meinem heutigen Besuch herausfinden, welche Ideen und Motivationen sich hinter ihren Werken verbergen.
22.12.2016: Eine belebte Hauptstraße führt uns in das ruhige Wohnviertel, in dem sich das Haus der Künstlerin befindet. Unauffällig reiht es sich in die bürgerliche Häuserzeile ein. Sicherheitshalber schaue ich lieber noch einmal auf die Visitenkarte. Straßenname und Hausnummer stimmen. Klingelschild? Stimmt auch. Also los geht’s! Wir klingeln. Der Türöffner surrt. Schon der schmale Hausflur vermittelt einen ersten überraschenden Eindruck über den individuellen Charakter des Hauses. Die Treppe hoch geht es durch die gemütliche Küche ins Wohnzimmer, wo wir (mein Sohn Simon und ich) erst einmal zu Kaffee und Gebäck eingeladen werden.
Der Raum erinnert mich sofort an eines ihrer Bilder. Farbig gestrichene Wände, ein grünes Sofa, Anrichte und Essplatz im Vintage-Look; über der Anrichte ein quergehängter angelaufener Spiegel umringt von Plattencovern, Postkarten und Nippes … mittendrin Anne-Mie van Kerckhoven wie in einem ihrer Selbstportraits. Schade, dass ich gerade nicht fotografieren kann …

Rorty, 2002
Wir sprechen über ihre Ausstellung in Mönchengladbach. Ich habe mich ein bisschen vorbereitet und die im Museum ausliegende Besucherbroschüre gelesen. Die Broschüre ist schon ein Kunstwerk für sich. Van Kerckhoven hat nicht nur den Inhalt verfasst, sondern auch das Layout gestaltet. In 12 Kapiteln, die auch den Ausstellungsraum gliedern, hat sie ihr Gesamtwerk unterteilt. Apropos Ausstellungsraum – auch die Architekturen, die dort zur Ausstellung eingebaut wurden, hat sie gemeinsam mit einer Architektin entwickelt. „Es war eine wahnsinnige Herausforderung, sich in dieser dominanten Museumsarchitektur zu behaupten. Das Haus selbst ist ein Kunstwerk. Ich hatte das Gefühl mit meiner Kunst in Konkurrenz zum Raum zu treten. Kaum gerade Wände, keine vorgegebenen Besucherwege, lediglich ein lichtdurchfluteter Großraum … Wir mussten ein Modell bauen, um die Ausmaße und Proportionen des Raumes bei unserer Planung immer vor Augen zu haben. Ein Grundrissplan reichte hier nicht aus“, erzählt sie und bringt dabei ihre anfängliche Verzweiflung zum Ausdruck.

Impressionen zur Ausstellung What would I do in orbit? (Fotos: Bild 1: Achim Kukulies, Bild 2: Detlef Ilgner, Bild 3: Uwe Riedel)
„Warum wurden es 12 Kapitel? Ist die Zahl 12 dabei von Bedeutung?“ Mit dieser Frage entzünde ich ein Feuerwerk. Natürlich ist die Zahl von Bedeutung! Zahlen, Symbole, Zeichen und Wörter spielen eine zentrale Rolle in ihren Werken. „Das war bestimmt kein Zufall. Ich suchte verzweifelt nach irgendeiner Ordnungsgröße, um dieses riesige Konvolut aus 40 Jahren zu systematisieren. Von anfänglichen 27 Kapiteln landete ich dann irgendwie bei 12. Und das ist doch ausgerechnet die Zahl, die uns in allen Kulturen als eine kosmische Zahl begegnet. Unsere Welt lebt den Zwölferrhythmus: 2 mal 12 Stunden fasst ein Tag, in 12 Monaten umkreist die Erde die Sonne … Aber wie so oft steckte bei mir keine Absicht dahinter. Es waren einfach irgendwann 12 Kapitel. Fast alles passiert intuitiv“ , lautet ihre Antwort.
„Widerspricht sich das nicht, Intuition und Systematisierung?“, frage ich. Sie überlegt kurz. „Es klingt im ersten Moment widersprüchlich, aber vielleicht muss ich es einfach anders erklären. Ich schaue mir die Welt ganz genau an. Für mich ist nichts einfach so wie es ist. Ich will immer wissen, warum es so ist wie es ist. Dabei experimentiere ich mit meiner Wahrnehmung und meinem Bewusstsein. Es gibt beispielsweise bestimmte Wörter, Schlagzeilen oder Bilder in Büchern und Zeitschriften, die ich losgelöst von ihrem eigentlichen Sinnzusammenhang intuitiv wahrnehme. Sobald ich dieses noch Undefinierbare spüre, entwickelt sich in mir ein fast innerer Zwang, diesen Intuitionen nachzugehen. Ich notiere dann Wörter oder schneide Texte und Bilder aus und transportiere über diese Handlung die vormals intuitiven Gedanken in mein Bewusstsein. In diesem Moment ist aber noch alles wirr und ungeordnet. In einem nächsten Schritt suche ich dann darin neue Sinnzusammenhänge und systematisiere hiermit meine Gedanken. Die Wörter, Zeichen und Bilder werden dann von mir künstlerisch in neue Themen eingebracht. Ich entschlüssle sozusagen Abbilder und codiere sie neu. Auf diese Art und Weise kann ich meine Gedanken kontrollieren und ihnen eine logische Position in meinem Leben geben.“ Bei ‚logische Position‘ denke ich spontan an mathematische Formeln und prompt fallen mir wieder Arbeiten ein, die ich von ihr gesehen habe.

Bild 1: Abdruck aus Zeitschrift, 1994 – Bild 2: Stress = (Proviand + Politik) x (Jugend + Poison), Installation 1981
Vor diesem Hintergrund lassen sich jetzt auch ihre typischen Collagen erklären, in denen Fragmente unterschiedlichster Kommunikationsmittel vereinigt werden. Aus dem vorherigen Sinnzusammenhang herausgerissen, entschlüsselt und in künstlerischer Bildsprache neu codiert blickt van Kerckhoven hinter die Oberflächen. Sie wolle dem „Wahren und Ursprünglichen“ auf die Spur kommen, das in unserem Unterbewusstsein schlummert, erklärt sie mir. Diese Motivation spiegelt sich auch in ihren Zeichnungen und Gemälden wider. Häufig erscheinen sie wie mehrschichtige Montagen, in denen sich der Betrachter Ebene für Ebene zum Ursprung graben darf. Vieles wirkt wie spontan und zufällig entstanden. Doch oft ist es auch so, als versuche sie ihre Figuren und Formen zu schematisieren und einem Ordnungssystem zu unterwerfen.
Intuition und Systematisierung – da sind sie wieder, die Grundmuster.
Eine geradezu unendliche Vielfalt von Themen findet sich in van Kerckhovens Werkschaffen reflektiert. Mythologie, Philosophie, Religion, Politik, Wissenschaft, Technologie … kein Thema ist ihr zu kompliziert.

Bild 1: Fragile, 2011 – Bild 2: Attributen en Substantie, 1993
Sinnbildlich hierfür ist folgende Geschichte, die sie lachend zum Besten gibt: „In einem Gespräch mit einem Neurowissenschaftler habe ich mir Wörter notiert, die ich ‚schön‘ fand. Vom Inhalt dieses Gesprächs habe ich nichts, aber auch wirklich gar nichts verstanden! Basierend auf diesen Wörtern habe ich dann irgendwann später, mich dabei amüsierend, eine Installation gezeichnet, die in meinen Augen einfach nur gut war. Ich hatte ja, wie gesagt, die Begriffe einzig auf ihre ästhetisch brauchbare Basis hin gesammelt. Und dann geschah das Unfassbare: Besagter Wissenschaftler schaut sich die Installation an, läuft begeistert auf mich zu und sagt, dass noch nie zuvor seine Gedanken so gut erfasst und visualisiert worden seien. Das war für mich der Beweis, dass unsere wahrgenommene Welt nur ein Abbild ist und sich dahinter vielfältige Ideen verbergen müssen.“
Die Frage, wie Kommunikation auf das menschliche Handeln einwirkt oder genauer gesagt, wie die Informationsverarbeitung unseres Gehirns funktioniert, treiben die Künstlerin spürbar um.
Bevor sie uns nun ihre Arbeitsplätze zeigt, entschuldigt sie sich im Vorfeld für die dort herrschende Unordnung und dafür, dass sie im Augenblick nicht viel an Arbeiten präsentieren könne. „Es ist fast alles in Mönchengladbach. In dieser Woche habe ich erst langsam damit anfangen können aufzuräumen und Platz zu schaffen. Ich brauche immer erst einmal eine frische Grundordnung, bevor ich mit etwas Neuem starten kann. Es macht mich im Moment ganz unruhig, dass alles so chaotisch ist.“ Genauso wie sie ihren chaotischen Gedanken eine logische Position zuordnen muss, ist es wohl mit ihrem räumlichen Umfeld, denke ich gerade.
Durch die Küche über das Dach geht es ins Hinterhaus, wo sich ihr Büro befindet. Eine schmale steile Holzleiter führt von dort hinauf ins Dachgeschoss, wo sich früher das Atelier befand. Im gesamten Raum verteilt verweisen zahlreiche Bücher und Zeitschriften auf die Leselust der Künstlerin.

… auf dem Weg ins Büro und Einblicke in den Arbeitsplatz
Ihr Atelier ist wenige Gehminuten entfernt. Auch wenn vielleicht noch nicht alles an seinem angestammten Platz liegt, ist hier von ‚Chaos‘ keine Spur. Anhand der unterschiedlichen Arbeitsmaterialien ist erkennbar, dass die Räume den Arbeitsprozessen entsprechend unterteilt sind. In einem Raum wird gezeichnet, im anderen collagiert und montiert, im Nebenraum werden Kleinformate in Regalen archiviert und vorn am Tor die Großformate gelagert. „Gibt es eine Reihenfolge, in der ein Werk entsteht? Erst die Zeichnung, dann die Collage oder gibt es vielleicht einen vorherigen Entwurf?“, frage ich. „Nein. Nein. Alles entsteht intuitiv, fast gleichzeitig“, lautet die fast schon entrüstete, vorhersehbare Antwort. Wie könnte es auch anders sein?

Bild 1: … im Atelier – Bild 2: Elke Backes und Anne-Mie van Kerckhoven
Gemeinsam schauen wir uns eine Mappe mit aktuellen Zeichnungen an. Beim Durchblättern realisiere ich, dass alle Arbeiten, die ich bisher von ihr gesehen habe, irgendwie etwas Gewaltiges und Direktes ausstrahlen, unabhängig des Genres, und unabhängig auch davon, ob sie zart und skizzenhaft oder kraftvoll und expressiv gestaltet sind. Es steckt etwas Kämpferisches, Buntes, Lautes darin. Wie in der Künstlerin selbst. Im Rückblick auf unser Gespräch wird mir klar, dass sie gegen Denkfaulheit kämpft, gegen stupides menschliches Handeln und vor allem gegen vorgefertigtes Wissen. Nur logisch, dass so häufig Selbstportraits in ihren Arbeiten zu sehen sind. Ebenso logisch, dass sie von uns nicht erwartet, dass wir ihre Codierungen entschlüsseln. Im Gegenteil! Sie möchte uns mit ihrer Kunst zu eigenem Denken, zum eigenen Experiment Wahrnehmung und Bewusstsein anregen. Einfach dazu anregen, festgefahrene Weltansichten – Weltbilder – in Frage zu stellen.
Abschließend daher mein Vorschlag zum van Kerckhoven-Selbstexperiment in drei Schritten:
Schritt 1: Besuch der Ausstellung What would I do in orbit?! (noch bis 26.2.)
Schritt 2. Darauf einlassen, dass der Kopf „wuschig“ wird!
Schritt 3: Eigene Codierungen zur Entschlüsselung suchen!

Weitere Informationen
zur Künstlerin: http://www.amvk.be
zur Ausstellung im Museum Abteiberg: hier klicken
zum Vortrag und Gespräch mit van Kerckhoven im Museum Abteiberg am 2.2.2017, 20 Uhr: hier klicken
zum Konzert mit van Kerckhoven im STEP in Mönchengladbach am 11.2.2017, 18 Uhr: hier klicken