Text: Dr. Elke Backes, Fotos und Zeichnungen: Marina Kiga
Die bevorstehende Premiere von XERROX Vol. 2, ein Ballett zur gleichnamigen Komposition von Alva Noto, choreografiert von Richard Siegal und getanzt von seiner Kompanie BALLET OF DIFFERENCE, war auch für mich eine Premiere. Der Besuch der Probe sowie das anschließende Gespräch mit Richard Siegal, forderten mich erstmals zur Auseinandersetzung mit zeitgenössischem Ballett heraus. Eines kann ich schon an dieser Stelle verraten: Es hat mich sofort erwischt!
Per Zufall war ich Richard Siegal auf einer Ausstellungseröffnung begegnet. Ohne eine Ahnung, dass ich mich mit einem der Superstars des zeitgenössischen Tanzes unterhalte und wir im üblichen Smalltalk darüber plauderten, was wir denn so machen, entdeckten wir schnell ein gemeinsames Interesse. Und zwar jenes für interdisziplinäre Projekte*. Dem Visitenkartenaustausch folgte eine prompte Einladung ins Schauspiel Köln, dem gemeinsamen Kooperationspartner mit Tanz Köln, des BALLET OF DIFFERENCE.
*Interdisziplinarität bezeichnet laut Duden „die Nutzung von Ansätzen, Denkweisen oder zumindest Methoden verschiedener Fachrichtungen“.
Impressionen des Gartens vor dem Schauspiel Köln (o.l. Richard Siegal).
Zwei Wochen später sitze ich nun voller Spannung im Theater und beobachte das allgemeine Geschehen. Während die TänzerInnen sich auf der Bühne aufwärmen und ihre Posen einüben, herrscht direkt hinter mir eifriges Treiben am Mischpult: Lichtcheck, Soundcheck und jetzt – Windmaschinen-Check. Das puristische Bühnenbild, lediglich bestehend aus einem die Bühne in ein Oval formenden, leichtfließenden grauen Stoffvorhang, wird lebendig. Vergleichbar mit einer beweglichen Skulptur, bauscht sich der Stoff in riesigen Wölbungen an unterschiedlichen Stellen geradezu biomorph auf, zieht sich flatternd zurück und schwingt langsam wieder in den Ruhezustand. Erster Wow-Effekt.
Es wird dunkel. Die Musik Alva Notos setzt ein. Zweiter Wow-Effekt. Tiefe elektronische Klänge bohren sich körperlich ein, während nun auch die Video- und Lichtinszenierung eingebunden wird und das Einwirbeln der Tänzer akzentuiert. Dritter und vierter Wow-Effekt. Zusammengefasst: Atemberaubend!
Weil wir nur offizielles Bildmaterial der finalen Aufführung verwenden dürfen, aber dennoch auch einen visuellen Eindruck der Proben festhalten möchten, fertigt Marina Kiga, Studentin der Kunstakademie Düsseldorf, die mich zum Termin auch fotografisch begleitet, Skizzen an. Während ihr Blick ab jetzt abwechselnd von der Bühne auf den Zeichenblock hin- und herfliegt, bleibt mein Blick wie hypnotisiert auf die Bühne gerichtet.
Impressionen der Proben, Zeichnungen von Marina Kiga.
Es ist schwer in Worte zu fassen, was sich dort abspielt. Geradezu übermenschlich agieren die TänzerInnen. Anmutig, mit enormer Emotionalität, energetisch und scheinbar schwerelos bewegen sie sich im Solo oder Duett zum futuristischen Sound. Musik, Bewegung, Licht und Bühne – alles fließt zusammen. Auch wenn ich Positionen des klassischen Balletts erkenne, wirken die Formationen völlig neu und fremd. Der Versuch, möglichst das Gesamte zu erfassen, scheitert. Auge und Wahrnehmungsfähigkeit sind überfordert. Gibt es ein Narrativ? Ist eine Aussage mit diesem Stück verbunden? Ich ertappe mich dabei, nonstop nach Interpretationen zu suchen und stehe deshalb permanent unter Hochspannung. Irgendwann schaffe ich es, mich einfach darauf einzulassen und in Brainstorming-Manier Worte zu notieren, die mir über die Bewegungen und Formationen der TänzerInnen in den Sinn kommen:
Anziehung, Abstoßung, Gruppenbildung, Rückzug, Einsamkeit, sich verschmelzende Zweisamkeit; Strukturen, die an biologische oder chemische Prozesse erinnern … Übergeordnet formuliert: soziale, biologische oder auch chemische Interaktionen, mal apokalyptisch zerstörend, mal energetisch aufblühend (s. Teaser).
Auf der Suche nach weiteren Bedeutungsebenen treffe ich anschließend, noch leicht verwirrt, den Choreografen Richard Siegal. Im Zentrum seiner Arbeit stehe, so heißt es offiziell auf der Website des BALLET OF DIFFERENCE, „die interdisziplinäre Auslotung neuer Formen des zeitgenössischen Tanzes“. Kein leichter Stoff, soviel ist klar.
Im Gespräch mit Richard Siegal.
Siegal lacht mich herausfordernd an und richtet die erste Frage an mich: „Und? Was sagst du?“
E.B.: Ich bin gerade noch etwas sprachlos, weil in meinem Kopf alles durcheinanderschwirrt. Vielleicht wird es einfacher, wenn du beginnst und mir erzählst, was genau deine inhaltlichen Ansätze bei diesem Stück waren?
Siegal: Zusammengefasst ging es vor allem um die Frage, was die Kunstform des Balletts identifiziert und wie sich die darin enthaltenen strengen Regeln und Gesetze in unsere heutige Zeit übertragen lassen. In der klassischen Ballettkultur wird etwas aus einer Zeit konserviert, die keine Unterschiede tolerierte. Wir leben aber in einer Zeit der Diversität, die Menschen mit verschiedenen Lebensstilen, Wertemaßstäben und unterschiedlichem Ästhetikempfinden zu akzeptieren lernt.
Mit diesem Stück haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, das Schöne, Aufregende und Aktuelle des klassischen Balletts herauszufiltern und es unserer heutigen Lebensweise entsprechend neu zu komponieren.
Dafür haben wir das im Ballett enthaltende Bewegungssystem wie die Syntax einer Sprache dekonstruiert und neu angeordnet. Das ist wichtig, denn die Form, die beim Ballett fortwährend wiederholt wird, wird zu unserer kulturellen Identität, zu dem, woran wir glauben.
E.B.: Für mich als Betrachter ist es unglaublich schwer vorstellbar, dass das, was ich gesehen habe, wiederholbare Formen sein könnten. Ich habe irgendwann aufgehört, nach einem möglichen System zu suchen, und dann aber Stimmungen im Zusammenhang mir bekannter Handlungsmuster wahrgenommen. Im Austausch mit Marina stellte sich anschließend heraus, dass wir ganz unterschiedliche Dinge darin für uns gesehen haben.
Siegal:
Das ist das Wunderbare an Performance. Ihre Gabe besteht darin, dass sie uns verzaubert und unser metaphorisches Denken anregt.Wir sehen etwas, das uns dazu einlädt in einen Zustand einzutreten, in dem alles, was an uns vorbeizieht, mit uns zu tun hat. Eine Selbstreflexion, in der es genügend Raum gibt, uns selbst zu finden.
Bilder der Inszenierung XERROX Vol. 2 von Richard Siegal / Ballet of Difference am Schauspiel Köln, ©Thomas Schermer.
E.B.: Aber wie kann eine solche Stimmung kreiert werden? Oder anders gefragt: Wie entsteht eine solch komplexe Choreografie?
Siegal: Sie entsteht bei mir prozessual, ohne Skript oder ähnliches. Gegeben ist lediglich die Musik. Der Anfang einer Choreografie ist so, als würde man suchend ins Dunkel greifen. Wenn man dann etwas gefunden hat und weiß, wo es ist, fängt man an, nach etwas anderem zu greifen. Irgendwann kannst du die Dinge sehen. Sie werden klar und du kannst sie berühren, bis letztlich der gesamte Raum mit all seinen Gegenständen gefüllt ist.
E.B.: Wie gibst du diese Visionen denn an die TänzerInnen weiter?
Siegal: Entgegen anderen Inszenierungen, bei denen ich die Bewegung kreiert und dann vorgetanzt habe, wurden diese auf der Grundlage choreografischer Systeme von den TänzerInnen individuell entwickelt. Konkret waren es die klassischen Ballettpositionen der Hände, mit denen wir begonnen haben. Indem ich den TänzerInnen diese Positionen mit der Aufgabe vorgegeben hatte, sie ins Verhältnis zum Körper zu stellen und dabei die verschiedensten Möglichkeiten gemäß der klassischen Balletttechnik auszuloten, entwickelten sich wiederholbare Bewegungsphasen. Es gibt eine große, wenngleich begrenzte Anzahl von Möglichkeiten, welche Positionen der Rest des Körpers einnehmen könnte. Der gemeinsame Nenner ist dabei aber immer durch die Hände definiert.
Richard Siegal erklärt die Bedeutung der klassischen Ballettpositionen der Hände.
E.B.: Klingt schon fast nach mathematischen Systemen. Wobei wir beim Thema interdisziplinäre Auslotung wären. Wer war – abgesehen von den TänzerInnen und dir – noch alles an der Entstehung und Inszenierung von XERROX Vol. 2 beteiligt und wie erfolgte die Abstimmung?
Siegal: Zunächst einmal der Mitbegründer des BALLET OF DIFFERENCE und Dramaturg Tobias Staab. Mit ihm entwickle ich das gesamte Programm und damit auch die grundsätzlichen Diskurse, die wir mit einem neuen Stück anstoßen möchten. Dann natürlich Alva Noto, der mit seiner Komposition die musikalische Grundlage und damit den Ausgangspunkt der Choreografie gebildet hat. Ebenso wichtig ist die Harmonie mit dem Bühnenbild, das vor allem mit Licht und Video inszeniert wird. Das Bühnenbild habe ich entworfen, Licht und Video wurden durch Matthias Singer entwickelt, mit dem ich bereits ebenso oft zusammengearbeitet habe wie mit Flora Miranda, der Kostümbildnerin. Gemeinsam mit allen Beteiligten entwickelt sich das Stück in einem steten Workflow. Jeder bringt seine Ideen ein, wir diskutieren und probieren Neues aus, bis irgendwann alles stimmt. Wir sind ein eingespieltes Team.
E.B.: Die Kostüme sind super zart und sehr transparent. Wie war deine Vorgabe an Flora Miranda?
Richard: Flora kannte nur die Musik, als sie mit ihren Entwürfen begonnen hat. Als ich ihr dann von meinen Ideen zur Choreografie erzählte, wurde schnell klar, dass es in diesem Stück sehr wichtig sein würde, die Form, Linie und Konturen des Körpers genau sehen zu können. Vor diesem Hintergrund ist eine Art skulpturale Herangehensweise an den Entwurf entstanden, weshalb die Kostüme im Ergebnis so zart und transparent geworden sind.
E.B.: Abschlussfrage, bevor wir nun gemeinsam für das Covershooting die Bühne stürmen: Tanzt du lieber selbst oder bevorzugst du die Choreographie?
Siegal: Ich liebe es zu tanzen. Ich liebe es aber auch zu choreographieren. Das ist wie „Äpfel mit Birnen vergleichen“ …
Covershooting mit Richard Siegal.
!!! AKTUELL !!!
Ihr habt Lust auf Ballett bekommen und wünscht euch, dass sich mit diesem Ensemble langfristig der Tanz (neben Schauspiel und Oper) als dritte Sparte im Spielplan des Schauspiel Köln etabliert? Genau das ist derzeit leider ungewiss. Besser gesagt, die Zukunft des BALLET OF DIFFERENCE steht auf dem Spiel. Die im Jahr 2017 erfolgreich gestartete, aber bis Ende 2023 befristete Kooperation mit Richard Siegal wurde bisher nicht verlängert.
Klingt nicht dringend. Doch werden Produktionen immer in jahresübergreifenden Spielzeiten geplant. Die zweite Produktion 2023 betrifft entsprechend die Inszenierung für das Frühjahr 2024. Ohne Planungssicherheit sind die hochqualifizierten, international ausgesuchten TänzerInnen nicht mehr lange zu halten. Das renommierte, national wie international erfolgreiche Ensemble droht auseinanderzubrechen, wenn seitens der Stadt Köln nicht kurzfristig (!) eine Lösung gefunden wird.
Es geht natürlich um Geld. Genau gesagt um 800 Tausend Euro. Ohne Frage ist das viel Geld, doch wie klein wirkt diese Summe mit Blick auf 644 Millionen Euro Sanierungskosten der immer noch nicht fertiggestellten Austragungsstätte aller Sparten – der Oper Köln?
Form braucht Inhalt!
Weitere Informationen
Ballet of Difference: http://balletofdifference.com
About Richard Siegal: http://balletofdifference.com/richardsiegal
Alva Noto: https://alvanoto.com
Matthias Singer: http://507nm.de
Flora Miranda: https://floramiranda.com
Schauspiel Köln: https://www.schauspiel.koeln
Marina Kiga: https://marinakiga.myportfolio.com/