Tallinn/Estland, Kilometerstand: 28.000. Das Fotokunstprojekt FACES OF EUROPE befindet sich im Countdown, als ich meine Tour-Begleitung von Estland über Finnland und Schweden nach Dänemark antrete.
Was treibt Carsten Sander an, eintausend Menschen in den verbliebenen siebenundzwanzig EU-Ländern zu portraitieren und innerhalb unterschiedlichster Ausstellungsformate zu vereinen? Wie reagieren die Menschen in den jeweiligen Ländern auf die Idee des europäischen Gedankens? Und warum entscheidet sich ein Meister der fotografischen Inszenierung bei diesem Projekt für eine bewusste Nicht-Inszenierung?
Beispiele der FACES OF EUROPE
Diese und viele weitere Fragen beantworten sich für mich während des „Über-die-Schulter-Schauens“ auf diesem abenteuerlichen Trip …
Eines der wichtigsten Ausrüstungsobjekte ist zunächst einmal der gestalterisch auf das Projekt abgestimmte Bus, der am Flughafen in Tallinn auf mich wartet. Er ist Transportmittel, Fotostudio, Pressebüro und Schlafstätte in einem.
Neben Carsten Sander ist der wichtigste Protagonist vor Ort Kameramann Adrian Bocîrnea, der die Interviews und Länderimpressionen für die Kurzfilme sowie den geplanten Dokumentarfilm aufzeichnet und medial aufarbeitet.
Carsten Sander (l.) und Adrian Bocîrnea
Im Hintergrund aktiv sind Presseagenten und Vertreter des Auswärtigen Amtes in Berlin, die die Kontakte zu den jeweiligen Botschaften herstellen und die bevorstehenden Termine koordinieren. Neben den Menschen, die spontan vor Ort akquiriert werden, braucht es immer auch bekannte Gesichter aus Kultur, Wirtschaft, Sport oder Politik, um ein vielfältiges Länderportrait abbilden zu können. Und eben diese werden von den Botschaften kontaktiert und zur Teilnahme am Projekt, das Teil des Kulturprogramms der deutschen EU-Ratspräsidentschaft ist, eingeladen.
So auch in Tallinn. Bereits die Teilnehmerliste spiegelt die Vielfalt der Protagonisten und lässt einen spannenden Tag erwarten.
Original-Teilnehmerliste (organisiert und zusammengestellt durch die Deutsche Botschaft in Tallinn)
Am Treffpunkt angekommen heißt es zunächst einmal – trotz der wie immer kurzen Zeitspanne, die für jedes einzelne Shooting zur Verfügung steht –, über Gespräche eine gute Atmosphäre zu schaffen, Vertrauen aufzubauen, das Staging zu arrangieren, die jeweilige Persönlichkeit der portraitierten Person „herauszukitzeln“ und dann im richtigen Moment auf den Auslöser zu drücken (s. Video).
Entscheidend für die Inszenierung sind die zentrierte Position und vor allem der neutrale Gesichtsausdruck der portraitierten Personen. Die sich immer wiederholende fotografische Anweisung lautet daher: „Bitte gerade stehen, aufrichten, geradeaus in die Kamera schauen, entspannen und: NICHT lachen!“ Das Unterdrücken jeglicher Mimik gestaltet sich als besonders schwierig. Während des Shootings wird sehr viel gelacht. Ernster wird es meist erst beim Interview, das im Anschluss vor laufender Filmkamera geführt wird. Erstaunlich, wie offen die persönlichen Geschichten erzählt werden und wie sehr diese in Verbindung zur EU-Mitgliedschaft stehen. Immer wieder werden die Reisefreiheit, die Ausbildungsmöglichkeiten, die freien Handelsbeziehungen und vor allem der internationale Austausch als bahnbrechend für die Entwicklung von Estland und auch für die eigene Entwicklung herausgestellt. So erzählt beispielsweise Kaido Höövelson, wie ihn sein Weg zunächst nach Japan führte, was seine Karriere zum international erfolgreichen Sumo Ringer begründete, bevor er Schauspieler wurde und schließlich Politiker mit eigener Rinderzucht. Geht es skurriler?
Kaido Höövelson alias Baruto Kaito
Scheinbar unermüdlich bringt Carsten Sander auch nach sechs Stunden ohne Pause jedem einzelnen die gleiche Aufmerksamkeit entgegen. Seine nicht abflauende, geradezu an Besessenheit grenzende Begeisterung für das Projekt ist erkennbar. Und dennoch, das immer gleiche Szenario muss doch irgendwann langweilig werden?
Sander: Nein. Auch wenn es mir keiner glaubt, es ist und wird nicht langweilig! Jede Begegnung und jedes Gespräch sind immer wieder bereichernd. Die stetige Wiederholung hat vielmehr eine technische Routine entwickeln lassen, die zu einer immer stärkeren Präzision innerhalb der Fotografie geführt hat. Ich brauche darüber nicht mehr nachzudenken und kann mich deshalb vollständig auf die Person konzentrieren, die ich portraitiere. Denn um sie geht es, oder besser gesagt: um die Abbildung ihrer inneren Wahrheit. Jeder kennt das Gefühl, das uns erwischt, wenn eine Kamera auf uns gerichtet ist. Wir passen uns automatisch der Situation und Stimmung an. So gibt es das typische Party-Gesicht, das Business-Gesicht, das Trauer-Gesicht und so weiter. Meine Aufgabe ist es den Moment des Kontrollverlusts abzuwarten. Hierbei dringe ich tief in das Innere des Menschen ein. Im Laufe der Zeit und durch die stete Wiederholung hat sich eine Selbstverständlichkeit bei mir und meinem Gegenüber eingestellt. Das bedeutet, es ist zu einem Teil von mir geworden, welches die Arbeit erleichtert, da ich mich weder erklären noch hinterfragen muss. Durch mir im Vorfeld selbst gesetzte, einzuhaltende Parameter ist eine gleiche Behandlung einer jeden Person gewährleistet.
E.B.: Klingt auch nach einem inneren Gleichgewicht, dass du für dich gefunden hast. Vermutlich ist das auch hilfreich, um das andauernde Flexibel-sein-müssen innerhalb des organisatorischen Ablaufs aushalten zu können?
Sander: Ja, es hilft in der Tat auch sehr auf dieser Ebene. Seit Beginn der Tour besteht der Anspruch ständig umdisponieren zu müssen. An jedem der bisher fast achtzig Tage heißt es, immer wieder aufs Neue ruhig zu bleiben, weil immer wieder etwas Unvorhergesehenes unsere Planung durcheinanderwirbelt.
Wie zum Beweis klingelt in diesem Moment das Handy. Der estländische Fernsehsender ETV möchte ein Interview. Also schnell alles verstauen und los. Der flinken Maske folgt der Rollentausch. Nun ist Carsten Sander der Befragte. Zur Demonstration des fotografischen Prozesses wird auch Moderator Jüri Muttika portraitiert. Gespannt betrachte ich am Abend den Fernsehbeitrag und das finale Foto. Es ist erstaunlich, aber trotz des neutralen Gesichtsausdrucks erkenne ich in dem Portrait die humorvoll ironischen Züge des Journalisten, die nicht nur das Gespräch so sehr geprägt hatten, sondern vermutlich auch wesentlich seinen Charakter bestimmen.
Carsten Sander im Interview mit Jüri Muttika von ETV (estländischer Fernsehsender)
Auf der Fähre nach Finnland resümieren wir die Begegnungen des Tages. Wer war wie? Und vor allem: Haben wir insgesamt ein mehr nationales oder ein eher europäisches Bewusstsein gespürt? Einstimmiges Ergebnis heute: Nationalstolz ja, parallel ein ausgeprägtes Zugehörigkeitsgefühl zu Europa – und zu Deutschland!?! Ich traue es mich kaum auszusprechen.
Sander: Genau diese Aussage hören wir schon auf der ganzen Tour, was ich absolut nicht erwartet hätte! Auslöser für mein Vorgängerprojekt Heimat Deutschland – Deine Gesichter war bekanntlich die nicht enden wollende Geschichtsscham, die nahezu jeder spürte, wenn er im Ausland seine Nationalität nannte und die erst 2006, mit Ausrichtung der Fußball-Weltmeisterschaft, sichtbar überwunden wurde. Plötzlich traute man sich wieder die Deutsche Fahne zu zeigen.
E.B.: Leider sind in neuerer Zeit wieder rechtspopulistische Tendenzen erkennbar, sodass sich erneut das beklemmende Gefühl der Geschichtsscham breitmacht, das sich doch gerade erst gewandelt hatte. Parallel lesen und hören wir immer mehr von separatistischen Tendenzen in Europa und der gesamten Welt. Vermutlich kein Zufall, dass sich die Idee zu FACES OF EUROPE in dieser Zeit entwickelt hat?
Sander: Nein. Die Idee steht natürlich im direkten Zusammenhang. Deshalb freut mich die durchweg positive Resonanz so sehr. Vor dem geschichtlichen und auch aktuellen politischen Hintergrund hätte ich niemals, vor allem nicht in Ländern wie beispielsweise Polen oder Rumänien, mit einer solchen Gastfreundschaft gerechnet. Unabhängig davon hat mich dort auch die Landschaft extrem überwältigt.
E.B.: Stichwort Landschaft. Oder besser gesagt: Land und Leute. Du hast jetzt schon so vielen Menschen intensiv ins Gesicht geschaut – Gibt es deiner Meinung nach so etwas wie eine Physiognomie, die auf die Herkunft schließen lässt? Erkennst du den Holländer, den Spanier, den Polen, den Estländer und so weiter?
Sander: Tatsächlich entdecke ich in Gesichtern – vor allem in der Augenpartie, dem Kinnbereich oder natürlich auch dem Teint – immer etwas Länder-Typisches. Doch gibt es migrationsbedingt immer häufiger Mischungen, die eine Zuordnung nahezu unmöglich, das Gesicht dann aber umso spannender macht. Insgesamt ist es vor allem die Vielfalt der Menschen, die mich fasziniert und die ich zum Ausdruck bringen möchte.
Unser nächstes Ziel heißt Helsinki. Treffpunkt ist der Vorplatz der erst 2018 eröffneten Zentralbibliothek Oodi, die nicht nur eine imposante Architektur, sondern auch ein ebenso imposantes Konzept vorzuweisen hat, wie uns Patrick Schachtebeck, Wirtschafts- und Kulturreferent der Deutschen Botschaft bei unserer Ankunft erzählt.
Zentralbibliothek Oodi in Helsinki
Auch er hat eine Gästeliste zusammengestellt, die uns sukzessive, von Begegnung zu Begegnung, das Land näherbringt. Ob Kinderbuchautor Timo Parvela, Antti Martikainen, Leiter einer außergewöhnlichen Obdachloseneinrichtung, Außenminister Pekka Haavisto, Ex-Premier Alexander Stubb, Schuhdesignerin Minna Parikka, die Youtube-Stars Elina und Sofia oder Schweinezüchter Timo Heikkilä – jede, jeder einzelne hat eine besondere Geschichte zu erzählen.
V.l.n.r. obere Reihe: Timo Parvela, Antti Martikainen, Pekka Haavisto, untere Reihe v.l.n.r.: Alexander Stubb, Minna Parikka, Elina und Sofia, Timo Heikkilä
Darüber hinaus lassen die Fahrten quer durch die Stadt, zum Treffpunkt nach Espoo und Turku eine atemraubend schöne Landschaft erkennen.
Von Turku geht es auf die Fähre in Richtung Stockholm. Im E-Mail-Postfach findet sich die nächste Teilnehmerliste, organisiert von Clarissa Blomqvist, der Leiterin Presse und Öffentlichkeit der Deutschen Botschaft in Schweden. Erneut: Diversität pur. Drei Persönlichkeiten stechen unmittelbar heraus: Der 96-jährige Walter Frankenstein, der in Berlin den Holocaust überlebt hat, Eishockey-Coach Daniel Broberg und – lese ich richtig – Björn Ulvaeus von ABBA? Ich hatte JEDE Schallplatte, mein Zimmer war mit ABBA-Postern zugeklebt und ich konnte wirklich JEDES Lied mitsingen. Seltsame Vorstellung ihm heute live zu begegnen.
Die genannten Personen lassen den Wechsel der Stimmungen erahnen. Ungläubig und berührt lauschen wir den Erzählungen von Walter Frankenstein, bevor Daniel Broberg auf „coole“ Art und Weise in die Welt des Eishockeys blicken lässt und schließlich Björn Ulvaeus mit Pudel zum Treffpunkt anspaziert und auf die Frage, worin er den nachhaltigen Erfolg seiner Songkompositionen begründet sieht, antwortet: „Diszipliniertes Arbeiten kombiniert mit ein bisschen Talent.“ Zumindest das Augenzwinkern lässt erkennen, dass er sich – trotz aller Bescheidenheit – seines außergewöhnlichen Talents bewusst ist.
V.l.n.r.: Walter Frankenstein, Daniel Broberg, Björn Ulvaeus
V.l.n.r.: Walter Frankenstein, Daniel Broberg, Björn Ulvaeus
Auch nach diesem ereignisreichen Tag heißt es wie an jedem Abend: Bilder bearbeiten, die geplanten Ausstellungen vorbereiten und neue Ausstellungskonzepte ausarbeiten. Jeder Ort schafft neue Voraussetzungen, die zur Entwicklung immer neuer Präsentationsformate herausfordern. So beispielsweise zur Lichtprojektion an der Fassade des Auswärtigen Amtes in Berlin, die anlässlich des Festival of Lights geplant ist oder zum gerade frisch ausgetüftelten Open-Gallery-Format Talking Heads.
Projektion der Faces of European auf der Fassade des Auswärtigen Amtes in Berlin anlässlich des Festival of Lights
Dieses Format sieht zur Präsentation der Portraits Lichtstelen und Projektionsflächen im Außenbereich vor, die akustisch durch Live-Mitschnitte der jeweiligen Interviews ergänzt werden.
Talking_Heads from Carsten Sander on Vimeo.
Animation der Open-Gallery Talking Heads
Während sich die Idee von FACES OF EUROPE – das Individuum als Teil der Gemeinschaft abzubilden – bereits über das Stilmittel der fotografischen Nicht-Inszenierung vergegenwärtigt findet, ermöglicht es diese Präsentationsform auch den Besucher interaktiv in das Projekt und damit in das große Ganze, den Europäischen Gedanken, miteinzubeziehen.
Welche Bedeutung hat die Interaktion eigentlich insgesamt für das Projekt, frage ich mich im Rückblick. Jede Aktion der vergangenen Tage, unabhängig davon, ob es sich um eine organisatorische Tätigkeit, um Kommunikation, um das Shooting selbst oder um die Präsentation der FACES OF EUROPE handelte, war von interagierendem Handeln bestimmt. Ist es dann nicht genau die Interaktion, zu der das Projekt aufruft und hiermit letztlich das große Ganze – den Europäischen Gedanken – nicht nur visualisiert, sondern auch in Aktion führt?
We are Europe!
Weitere Informationen
Website FACES OF EUROPE: https://www.facesofeurope.eu
Ausstellungskalender: https://www.facesofeurope.eu/exhibitions/
Website Carsten Sander: https://carstensander.com
Beitrag über Carsten Sander auf ATELIERBESUCHE.COM: https://atelierbesuche.com/carsten-sander/