Auf den Spuren von Auslöschung und Bewahrung – Eine unheimliche heimatliche Tour mit Gregor Schneider
Fotos: Susanne Schnabel
Mönchengladbach-Rheydt. Dieser Ort hat im Zusammenhang mit Gregor Schneider eine besondere Bedeutung. Rheydt ist nicht nur der Geburtsort, die Heimat und der Arbeitsmittelpunkt des Bildhauers, Fotografen und Filmemachers. Mit den Räumen des Hauses u r*, einem Haus seiner Familie, wurde vor allem der Ursprung seines Werkschaffens begründet. Kontinuierlich baut er hier seit seinem sechzehnten Lebensjahr gleiche Räume in bestehende Räume ein, verdoppelt Räume und Objekte oder bringt sie zum Verschwinden. Der Aus- und Einbau von vierundzwanzig dieser Räume in den deutschen Pavillon der Biennale Venedig machte ihn 2001 zum Preisträger des Goldenen Löwen. In immer neuen Kontexten werden sie seitdem weltweit ausgestellt.
* Titel entstanden aus Abkürzung Unterheydener Straße
Haus u r, Unterheydener Straße in Mönchengladbach-Rheydt, Raumbeispiele: Kaffeezimmer ur 10, ur 1, ur 3 A
Zehn Minuten Fahrtzeit von Rheydt-Zentrum entfernt befindet sich das Braunkohleabbaugebiet Garzweiler, das insbesondere durch die aktuellen Klimadiskussionen zur ungewollten Berühmtheit gelangte. Mit seinem Projekt Sterbende Dörfer setzt sich Gregor Schneider bereits seit den 1980er Jahren künstlerisch mit diesem Areal auseinander.
Einhundert Meter Luftlinie von Haus u r entfernt befindet sich das Geburtshaus des ehemaligen Reichspropagandaministers Joseph Goebbels. Gregor Schneider kaufte es 2014, um sich dessen Dokumentation und Erforschung anzunehmen. Neben seinen Arbeiten Sterberaum und Cube Venice löste er hiermit erregte Kontroversen aus, die bis hin zu Morddrohungen führten. Für die Erforschung von Fragen wie „Was ist ein originaler Raum?“, „Was passiert mit Räumen?“ oder „Wie kann ein Raum auf Ereignisse verweisen, die darin passiert sind?“, ist er bereit, sich selbst unvorhersehbaren Risiken auszusetzen. Innerhalb seiner künstlerischen Aktionen folgt er geradezu exzessiv seiner Intuition.
Genau das Gegenteil trifft auf die Organisation und Struktur seines Ateliers zu. Das gilt auch für die Vorbereitung auf meinen heutigen Besuch, wie ich direkt zu Beginn feststelle.
„Ich schlage vor, dass wir uns erst einmal hier umschauen und dann gemeinsam die Stationen Garzweiler, Goebbels Haus, Haus u r und meine große Lagerhalle ansteuern“, so sein Vorschlag. Meine Vorfreude steigt.
Das Atelier ähnelt einem großräumigen Architekturbüro. Arbeitstische mit Zeichnungen und Modellen bestimmen die eine Hälfte des Raumes, bibliotheksmäßig beschriftete Regalsysteme die andere Hälfte. In einem Rundgang bekomme ich eine erste Einführung in die Gesamtstruktur der Schneider-Welt.
Einblicke ins Atelier
„Wichtig ist zunächst einmal zu sagen, dass von hier aus nicht nur die gesamte Kommunikation, Entwicklung und Durchführung von neuen Ausstellungen gesteuert wird, sondern auch die Archivierung und Einlagerung vergangener Ausstellungen. Neben meinen Fotografien und Filmen, die sich hier im Magazin befinden, werden meine bildhauerischen Arbeiten und auch die Räume je nach Größe im hier angrenzenden Lager oder in der großen Lagerhalle aufbewahrt. Die Originalität von Räumen – und zwar bestehend aus Boden, Wänden und Decke – ist für mich von großer Bedeutung. Deshalb gibt es von mir in Ausstellungen grundsätzlich nur Originale, die ich selber gebaut habe, zu sehen. Mich ärgert es, dass Museen der Meinung sind, nach dem Tod eines Künstlers, wie beispielsweise bei Absalon oder Schwitters, Raumkunstwerke einfach rekonstruieren zu können, anstatt diese zu Lebzeiten zu sammeln und zu bewahren. Neben dem Forschen, Ausstellen und Vermitteln gehört das Sammeln schließlich zu den wesentlichen Aufgaben von Museen.
Doch müssen auch Räume behandelt werden wie Skulpturen und Malereien. Bei einem verlorenen Gemälde kommt auch keiner auf die Idee, dieses nach dem Tod des Künstlers noch einmal in der Handschrift des Künstlers zu malen. Für Architekturen gelten Regeln des Denkmalschutzes. Der Umgang mit Räumen ist durch nichts geschützt. Um originale Raumkunstwerke erhalten zu können, muss ich mich deshalb selbst um die transportable Einlagerung und logistische Abwicklung kümmern. Das Ganze stemmen wir hier meist zu zweit“, erklärt Schneider, während wir uns das dem Atelier zugehörige Lager anschauen.
Auf Paletten sind Transportkisten beschriftet mit den jeweiligen Projekttiteln zu sehen. Ich entdecke die Kisten mit der Aufschrift „Bad 2014“ und erinnere mich an das sich einundzwanzig Mal wiederholende, hintereinander angeordnete Bad, das dem Besucher in einem Parcours durch Räume des Schauspiels Köln immer wieder aufs Neue begegnete und seinerzeit bei mir die totale Verwirrung auslöste. Selten war ich so froh, wieder ins Freie gefunden zu haben!
Ein Bereich des Lagers ist zum Fotostudio umgerüstet. Eine Gelegenheit zum Shooting …
Lager am Atelier
Nachdem wir auch noch einen Blick in die angrenzenden Werkstatträume geworfen haben, verlassen wir das Areal und starten die geplante Tour.
Wir fahren nach Garzweiler. Während viele der ehemaligen Dörfer des Braunkohleabbaugebietes bereits verschwunden sind, gibt es dort nach wie vor verlassene Ortschaften zu sehen, deren endgültige Auslöschung noch bevorsteht. Gespenstisch ist die Atmosphäre.
„Mir war es wichtig hierhin zu fahren, weil ich mich hier nicht nur mit der Zerstörung von Kulturraum und den Auswirkungen auf das Klima auseinandergesetzt habe, sondern erstmals auch Räume auf eine verschwundene Wirklichkeit hin erforscht habe. Ohne diese Auseinandersetzung wäre Haus u r undenkbar gewesen. Ich habe hier Materialien aus den verschiedenen Häusern aus- und in Haus u r eingebaut. Auch durch die für die Grundwasserabsenkung erforderlichen Rohre habe ich mich hier inspirieren lassen, sie in späteren Ausstellungen verbaut und wie üblich wieder abgebaut und eingelagert. Sehen wir gleich in der Lagerhalle.“
Beispiele aus Verschwundene Dörfer
Auf geht’s zur nächsten Station. Beim Öffnen des gigantischen Rolltores erahne ich schon eine gewisse Größe. Doch übertrifft das Ausmaß der Halle meine Erwartungen um ein Vielfaches. Hier könnten auch zwei Flugzeuge Platz finden. Nicht nur Transportkisten, sondern auch Container sind hier eingelagert. Aufschriften oder einzelne sichtbare Elemente lassen Projekte wie totes Haus u r im Deutschen Pavillon in Venedig (2001), Steindamm in der Hamburger Kunsthalle (2003), Die Familie Schneider in London (2004), Weiße Folter im K21 in Düsseldorf (2007) oder It’s All Rheydt in Kalkutta (2011) erkennen. Unter einer Plane sind auch die Abwasserrohre aus Garzweiler zu sehen, die 2014 unter dem Titel Kunstmuseum im Kunstmuseum Bochum zum Einsatz kamen. Spätestens jetzt erschließt sich der logistische Aufwand, der mit der Sammlung des eigenen, in über dreißig Jahren entstandenen Werkschaffens verbunden ist.
Lagerhalle
Unser nächstes Ziel führt uns zum Goebbels Haus. Wie wird es sich anfühlen den Ort zu betreten, in dem einer der schlimmsten Verbrecher der Nazi-Zeit geboren wurde? Bevor wir hineingehen, erläutert Schneider seine Motivation zur Durchführung des umstrittenen Projekts.
„Es waren diese geradezu unheimlichen Verbindungen, die sich immer mehr offenbarten. Dass Goebbels aus Rheydt stammte, war mir natürlich bewusst. Dass ich mich mit ihm intensiver beschäftigt hatte, stand im Zusammenhang meines Beitrags im Deutschen Pavillon in Venedig 2001. Es war bekannt, dass auch Goebbels dort zweimal den deutschen Beitrag kuratiert hatte. In der geschichtlichen Auseinandersetzung mit diesem Ort recherchierte ich weiter und stieß auf Auszüge seines öffentlich zugängliches Tagesbuchs. Seine darin im Angesicht der militärischen Niederlage und seines eigenen bevorstehenden Todes verfassten Einträge, lassen die besondere Beziehung zu seinem Geburtsort und Geburtshaus erkennen. Noch während des Krieges hatte er erfahren, dass vor seinem Geburtshaus in Rheydt eine weiße Fahne gehisst worden war. Allein dieses Ereignis hatte ihn dazu veranlasst, in Absprache mit Hitler, Partisanen-Attentate zu initiieren, die die Ermordung von Heinrich Vogelsang, dem neuen Oberbürgermeister der Stadt Rheydt, und ein Standgericht an den örtlichen Pfarrern vorsahen. Dass auch der Oberbürgermeister in Aachen durch Partisanen-Attentate ermordet worden war, beschreibt er ebenfalls ausführlich in seinem Tagebuch. Im Stadtarchiv fand ich dann die Adresse des Geburtshauses. Bis 2006 wurde dort behauptet, das Haus sei im Krieg zerstört worden. Per Zufall stieß ich dann 2014 in einer Immobilienanzeige auf das zum Verkauf stehende, angeblich zerstörte Haus. Es befand sich in unmittelbarer Nachbarschaft zum Haus u r und ähnelte diesem auch noch in auffälliger Weise. In einer Mischung aus persönlichem Zwang und der Verpflichtung verdrängte Geschichte aufarbeiten zu müssen, fühlte ich mich zum Kauf geradezu angetrieben. Ich hatte das Gefühl, das Haus habe mich gefunden und nicht umgekehrt.“
Mit einem mulmigen Gefühl betrete ich nun das Haus. Es bedarf keiner Erklärung um zu erkennen, dass hier eine Entkernung bis hin zur ursprünglichen Substanz des Hauses stattgefunden hat. Im Geburtszimmer von Goebbels ist das blanke Mauerwerk, die Balkenkonstruktion der Decke und sogar die gewölbte Kappendecke des Kellers freigelegt, die den Boden wie einen Acker erscheinen lässt.
Geburtshaus von Joseph Goebbels, Odenkirchener Straße 202 in Mönchengladbach-Rheydt
„Es war einfach eine unerträglich unfreie Situation. Das Haus existiert und keiner sprach darüber. Das Unausgesprochene kann sehr laut werden. Wie sich auch im Nachhinein herausstellte, war die Existenz des Hauses nicht nur für die Bewohner und Nachbarn ein gut behütetes Geheimnis. Die Idee war es einen Ort, der durch seine Geschichte zu einem negativen Symbol wurde, durch Kunst – mittels Umwandlung des Baumaterials – in ein neues Symbol umzuschreiben. Zunächst einmal war es mir aber wichtig, das Haus systematisch zu erforschen und zu dokumentieren. Ich habe das komplette Haus in 3 D eingescannt. In dieser Zeit habe ich versucht hier zu wohnen. Der Nazigeist war auch in Form von Büchern über Phrenologie und Rassenkunde noch im Haus. Die Gegenwart dieses Geistes in den Mauern war unerträglich.“
Aktionen Essen und Schlafen, Odenkirchener Straße 202, Rheydt 2014
„Ich setzte mich mit der These Peter Longerichs [Biograph von Goebbels] auseinander, wonach sich Goebbels narzisstische Persönlichkeitsstörung in den ersten drei Lebensjahren ausgebildet habe. Ich stellte mir die Frage, welchen räumlichen Einflüssen er in dieser Zeit ausgesetzt gewesen sein könnte. Ausgehend von der Tatsache, dass in jedem Material Gebrauchs- und Lebensspuren eingeschrieben sind, habe ich mich auf Spurensuche begeben und mich hier im Geburtszimmer bis in die ursprüngliche Substanz des Raumes buchstäblich vorgegraben. Ziel war es, alle Spuren umzuschreiben und dann das gesamte Haus zu pulverisieren, um den Ort so zu verwandeln. Statische Probleme verhinderten aber bisher das komplette Vorhaben. Unter dem Titel unsubscribe habe ich das entkernte Haus, den Schutt sowie verarbeitete Relikte des Hauses in der Nationalgalerie in Warschau und später den Schutt vor der Volksbühne Berlin abgestellt.“
links: Lastwagen mit Schutt vom Haus Odenkirchener Straße 202 vor der Nationalgalerie Zacheta in Warschau, rechts: Verarbeitete Relikte der Bewohner des Hauses Odenkirchener Straße 202
Die letzte Station unserer Tour ist das legendäre Haus u r, in dem nahezu nichts mehr so ist wie es einmal war. Aufgrund der vielfachen Ausbauten der Räume ist das Betreten ohne Führung des Künstlers nicht möglich. Um nicht in irgendwelche Löcher zu stürzen, folge ich deshalb gehorsam seinen Anweisungen: „Hier bitte mit dem Rücken entlang der Wand. – Da nicht weitergehen. Da geht’s in den Keller. Die Treppe ist raus. – Achtung! Hier liegt alles voll Schutt. Da geht’s nicht weiter. Bitte vorsichtig zurück …“
Haus u r
Normal erscheint lediglich das Treppenhaus, das uns in die erste Etage führt. Beim Fenster im Zwischengeschoss frage ich mich allerdings, ob es sich tatsächlich um eine Öffnung nach außen handelt oder vielleicht doch nur um eine Lichtquelle die Tageslichtsituation vortäuscht. Oben angekommen gehen wir in einen Raum hinein, wo Schneider eine in die Wand eingesetzte Klappe öffnet. Eine Art Schacht wird sichtbar, der in einen weiteren zuvor nicht sichtbaren Raum führt. Dort angekommen realisiere ich, dass ich durch eine Schrankwand mit eingebautem Waschbecken und Teeküche gekrochen bin. Ausgestattet mit Bett, Badewanne, Hocker, Leiter, Kofferablage und Heizkörper handelt es sich um den Raum Liebeslaube (1995 konstruiert), der mir bisher nur aus Abbildungen bekannt war. Mal alles anfassen und einnehmen zu dürfen, hat schon etwas Besonderes.
… Durchgang zur Liebeslaube
… ohne Worte
Dennoch ändert auch das nichts an der allgemeinen Atmosphäre des Unheimlichen und Unwirklichen, stelle ich abschließend fest. Ebenso wie im Goebbels Haus oder den Sterbenden Dörfern ist es das spürbare Auslöschen von Gebrauchs- und Lebensspuren, die Isolierung und Umwandlung von Substanz oder ihre konstruierte Verdopplung, die diese Atmosphäre hervorruft.
Immer wieder werden Spuren von Individualität ausgelöscht und Fragen nach Originalität, nach nicht sichtbaren Realitäten aufgeworfen. Gregor Schneider inszeniert etwas surreales Fremdes, etwas unbestimmt Anderes, irgend etwas zwischen Auslöschung und Bewahrung, das die eigene Verortung in Raum und Zeit durcheinanderwirbelt und vormals sicher geglaubte Wirklichkeiten in Frage stellen lässt …
Der Atelierbesuch wurde von Susanne Schnabel, Redakteurin des WDR begleitet:
Weitere Informationen
… über Gregor Schneider: https://www.gregor-schneider.de
Aktuelle und bevorstehende Ausstellungen:
08.10.2019 – 28.06.2020: The dark side, Musja, Roma, Italy, Curator: Danilo Eccher (Cat)
28.11.2019 – 30.08.202: Tell me about yesterday tomorrow, NS-Dokumentationszentrum, München, Germany, Curator: Nicolaus Schafhausen (Cat)
soon: Time Present, Photography from the Deutsche Bank Collection, PalaisPopulaire, Berlin, Germany
29.08.2020 – 06.12.2020: Tote Räume, West Museumkwartier, Den Haag, Netherlands, Curator: Marie-José Sondeijker (Solo) (Cat)
03.09.2020 – 06.09.2020: Kreuzweg, Logroño’s International Architecture and Design Festival, Logroño, Spain
(Solo) – Solo exhibition
(Cat) – Catalogue