Heute geht es nach Amsterdam. Genauer gesagt ein bisschen weiter, in das beschauliche Städtchen Koog aan de Zaan. Unmittelbar am Fluss Zaan gelegen befindet sich die ehemalige Hong-Fabriek [Honig-Fabrik], heute ein Ort kreativer Unternehmer. Hier besuche ich den niederländischen Künstler Jasper de Beijer. Seine Kunst, die sich der Fotografie zuordnen und mit „manipulierter Fotografie“ ein wenig näher beschreiben lässt, erfährt mittlerweile internationale Anerkennung durch Galerie- und Museumsausstellungen und ist bereits Bestandteil bedeutender öffentlicher Sammlungen geworden. Bei meinem Atelierbesuch möchte ich vor allem herausfinden, wie und vor welchem Hintergrund seine Arbeiten entstehen. Begleitet werde ich von meiner Freundin, der Fotografin Sarah Schovenberg, die heute die fotografische Dokumentation übernimmt.
Alternativ und individuell sind die ersten Begriffe, mit denen sich die Hong-Fabriek außen wie innen beschreiben lässt. Im Hof werden wir vom Künstler abgeholt. Vorbei an vermutlich hier kreierten, ungewöhnlichen Designmöbeln führt uns der Weg zum Lastenaufzug, der seine besten Jahre offensichtlich hinter sich hat. Erwartungsvoll drückt de Beijer den Knopf: „Der Aufzug funktioniert nur manchmal.“ Wir warten. Überraschenderweise funktioniert er jetzt gerade nicht. So geht’s dann zu Fuß hinauf in die vierte Etage. Unterwegs bekommen wir schon mal die ersten Infos. Der ehemalige Großraum der vierten Etage werde gerade so nach und nach in unterschiedlichste Einzelräume unterteilt, berichtet de Beijer. Größe und Lage dürften dabei je nach Bedarf bestimmt und ausgebaut werden. Lautes Hämmern und Baumaterialien in jedem Winkel lassen unverkennbar auf eine rege Bautätigkeit schließen.
Auch seinen Arbeitsplatz habe er sich zunächst einmal abgesteckt, dann in Eigenregie die Außenwände gemauert und schließlich den Innenraum ausgebaut, erzählt de Beijer, während er die Tür öffnet. Beim Betreten des Raumes offenbart sich uns dann das, was sich ein jeder unter einem wahren Künstleratelier vorstellt: Kartons stapeln sich zwischen Textilien, Farbtuben, Farbtöpfen, Kleister, Styropor und Papier. Weitere Utensilien wie Koffer, Lampenschirme, Rattankörbe, Kostüme und Kunstpflanzen stehen und liegen überall herum.
Atelierimpressionen …
Mittendrin entdecke ich Figuren, die ich von seinen Bildern kenne, allerdings in Miniatur.
Modell und Foto aus Serie Marabunta, 2012
Modell und Foto aus Serie Mr. Knights World Band Receiver, 2012
Es herrscht kreatives Chaos. Bei näherer Betrachtung erkenne ich dann allerdings System im Chaos. Unterschiedliche Arbeitsbereiche gliedern nicht nur den Raum, sondern spiegeln auch parallel die Arbeitsprozesse de Beijers, wie ich später noch herausfinden werde. Die mit grünem Stoff bespannten Wände in einem Winkel des Raumes, der dort ausgelegte Boden, Leiter und Stativ lassen auf sein Fotostudio schließen. Das mitten im Raum platzierte Modellflugzeug aus Rattan, die auf den Tapeziertischen stehenden und liegenden Modelle von Köpfen, Schiffen, Autos, Haarteilen, die Farben und Werkzeuge verweisen auf den analogen Teil – Computer, Drucker und Kamera am anderen Ende des Raumes unverkennbar auf den digitalen Teil seiner Arbeit. Zumindest erahne ich gerade, wie seine manipulierte Fotografie entstehen könnte. Ich blicke hoch auf die Galerie, die in den Raum eingezogen wurde.
Diese habe er nicht nur eingezogen, um zusätzliche Ablagefläche zu gewinnen, sondern auch, um einen separaten Ruhebereich zu schaffen, erzählt de Beijer, meinem Blick folgend. Das unterhalb der Galerie befindliche Sammelsurium ausrangierter Polstermöbel nebst Tisch dient anscheinend den Kurzpausen oder wie heute dem Gespräch mit Besuchern. Es gibt Schokolade und Wasser aus einer Colaflasche.
Unser Gespräch beginnt.
Jasper de Beijer und Elke Backes
Ich versuche zunächst einmal darzustellen, was sich in meinem Kopf abgespielt hat, als ich das erste Mal einer seiner Bilderserien begegnet bin: „Ich dachte zunächst: ‚Wow!, coole Motive und Farben.‘ Ihre Ästhetik erinnerte mich an Computerspiele. Die Frage nach der Technik erübrigte sich entsprechend. War ja klar – konnte nur digital gestaltet sein. Bei näherer Betrachtung wurde ich dann allerdings unsicher. Einzelne Fragmente der Bilder wirkten montiert, collagenhaft. Sie passten nicht zusammen. Ich fragte mich, ob Absicht dahinter steckt und wurde neugierig. Es war die Serie Marabunta, die sich mit den mexikanischen Drogenkriegen auseinandersetzte. Wie ich dann bei deinen weiteren Projekten festgestellt habe, sind es immer kultur- oder gesellschaftspolitische Themen, die deine Arbeit bestimmen. – Wie hängt nun alles zusammen?“
Beispiele aus der Serie Marabunta, 2012
De Beijer legt los. Seine Gedanken und Ideen in Worte fassend, explodiert er förmlich: „Ich möchte Wahrnehmungsmuster aufbrechen. Ein Bewusstsein dafür schaffen, dass die Bilder, denen wir unentwegt ausgesetzt sind, nur zu fünf Prozent real sind und zu fünfundneunzig Prozent durch unser individuelles und vor allem durch das kollektive Gedächtnis beeinflusst und vervollständigt werden.“ Er erinnert sich an die Situation, die ihm dieses Bewusstsein vor Augen geführt hat. „Meine Frau ist Indonesierin. Eine Vielzahl von Fotos bei uns zu Hause erinnern an vergangene Zeiten ihrer Heimat: Portraits, Landschaftsaufnahmen, Häuser … Diese Fotos oder auch Bilder, die ich aus Filmdokumentationen, Büchern und Erzählungen kannte, hatten offensichtlich mein Bild von Indonesien geprägt. Das realisierte ich aber erst auf unserer Reise dorthin. Obwohl mir natürlich bekannt gewesen war, dass sich dort alles verändert hatte, irritierte und verwirrte mich der Anblick der lärmenden Großstädte. Das Bild in meinem Gedächtnis war in der Kolonialzeit hängengeblieben und suchte verzweifelt nach Spuren der Vergangenheit. Ich entdeckte dann ein altes Kolonialhaus und entwickelte dort die Idee, die mein weiteres Arbeiten bis heute bestimmt hat. Ich wollte Objekte aus vergangenen Zeiten reproduzieren, um sie dann in andere Zeiten oder auch andere Umgebungen zu platzieren. Ich fotografierte also dieses Haus aus jedem Winkel, fügte es dann zunächst in meinem Studio digital zusammen und baute es nach dieser Vorlage maßstabsgerecht als Modell nach. Als nächstes nahm ich einige unserer Portraitfotos als Vorlage für die Modellage von Gesichtsmasken und fotografierte Menschen in heutiger Kleidung, aber mit dieser Gesichtsmaske. Zuletzt kreierte ich digital eine Fantasielandschaft für das Haus und fügte dann alle Elemente in neue Szenarien zusammen. Auf diese Art und Weise wurde es mir möglich, verfremdete Stimmungen zu konstruieren.“ [Er beschreibt hier das Projekt Buitenpost, 2004]
Beispiele aus der Serie Buitenpost, 2004
Die Auseinandersetzung mit dem, was unser kollektives Gedächtnis prägt und welche Objekte oder auch Mythen Vergangenheit repräsentieren, treibt ihn seither an. Sein aktuelles, noch in der Entstehung befindliches Projekt geht noch einen Schritt weiter. In The Brazilian Suitcase, erzählt er mir, kreiere er eine Zeitreise in drei Stationen (1926, 1979, 2016). Die Fotos und Dokumentationen um die Legende des britischen Forschers Percy Fawcett, der 1926 auf mysteriöse Weise im brasilianischen Urwald verschwand, habe ihn inspiriert, in drei unterschiedlichen Zeitepochen darzustellen, wie die Forschung von Fawcett sowie alle dortigen Nachfolgeexpeditionen eine Mutation des Ortes, der Zivilisation und auch der Forschungsergebnisse herbeigeführt habe: „Und dies ist sinnbildlich für alle Expeditionen. Auf der Suche nach dem Ursprünglichen müssen irgendwann alle realisieren, dass ein einmal erforschter Ort nicht mehr ursprünglich sein kann. Alles hat sich weiterentwickelt und verändert. Sie graben und graben verzweifelt nach den Spuren der Vergangenheit, um letztlich maximal denselben Ausgangspunkt der ersten Forschung erreichen zu können. Es ist ein immer wiederkehrender Kreislauf. Mythen und Bilder prägen Erwartungshaltungen, die sich nicht erfüllen können.“
Beispiele aus dem Projekt Brazilian Suitcase, 2016
Eigentlich vergleichbar mit seiner Erwartungshaltung bei der Reise nach Indonesien, denke ich. So wie die dokumentarischen Fotos von Percy Fawcett für alle nachfolgenden Forscher als wahre Zeitdokumente und Abbild von Ursprünglichkeit gegolten hatten, waren die Familienfotos bei de Beijer als Abbild des ursprünglichen Indonesiens verankert gewesen. Seitdem ist auch er ein Forscher nach dem ursprünglichen Bild unterschiedlicher Kulturen. Aber ist es das allein? Erforscht er nicht vielleicht vordergründig die Macht des Bildes als solchem? Stellt er nicht grundsätzlich die Objektivität von Dokumentarfotografie in Frage?
Reale Vorlage im Museum fotografiert oder manipuliert?
Ich erinnere mich an seinen zentralen Satz zu Beginn unseres Gesprächs. Er möchte mit seiner Kunst ein Bewusstsein dafür schaffen, „dass die Bilder, denen wir unentwegt ausgesetzt sind, nur zu fünf Prozent real sind und zu fünfundneunzig Prozent durch unser individuelles und vor allem durch das kollektive Gedächtnis beeinflusst und vervollständigt werden“.
Wie kann diese Absicht besser visualisiert werden als durch eine offensichtliche Collage, wird mir schlagartig bewusst. Deshalb setzen sich seine Bilder aus einem Bruchteil Realität und einem Großteil Fiktion zusammen! Er lädt uns als Betrachter ein auf eine Forschungsreise in unser eigenes Bewusstsein. Wir dürfen erkunden, welche fragmentarischen Bilder innerhalb seiner Fotografien Erinnerungen und/oder Stimmungen bei uns selbst hervorrufen. Bilder, die wir vielleicht zuvor irrtümlich als reale Abbildungen in unserem Gedächtnis gespeichert hatten. Alles kreist immer um die Frage, was ist Realität und was ist Fiktion?
De Beijer ist zu einem Großteil Fantast und ein bisschen Realist, erzählt er über sich selbst. Es ist erstaunlich und wunderbar zu sehen, wie ein solches Charakterbild seinen Spiegel in der Kunst finden kann …
Weitere Informationen
Preview: Ausstellung The Brazilian Suitcase, Januar 2017, Galerie Ron Mandos, Amsterdam
… über die Galerie: http://www.ronmandos.nl
… über den Künstler: http://debeijer.com