Ein Atelierbesuch im Selbstversuch
Heute bleiben wir in Mönchengladbach. Ich bekomme Besuch vom Fotokünstler Carsten Sander. Um seine Arbeit besser verstehen und nachvollziehen zu können, stelle ich mich als Modell für seine aktuelle Projektserie Pipistrella zur Verfügung. Es ist sozusagen ein Atelierbesuch im Selbstversuch.
Bekannt ist Carsten Sander vor allem durch sein gesellschaftspolitisches Projekt Heimat. Deutschland – Deine Gesichter. Doch es lohnt sich, auch einen Blick auf seine anderen Arbeiten zu werfen. In der Schwarz-Weiß-Serie Pipistrella inszeniert er Frauen in den unterschiedlichsten Umgebungen auf verschiedenste Art und Weise. Erstaunlicherweise ist trotz all der Vielfalt immer seine Handschrift erkennbar. Ich möchte herausfinden, was genau diese Handschrift definiert.
Bild 1: Olga – Bild 2: Victoria
Bild 1: Isabelle – Bild 2: Blumengiesserin
Unserem heutigen Termin ging zunächst ein weiterer voraus. Es galt eine Bildidee zu finden. Bei Pipistrella werde der Impuls zu einer neuen Idee oft durch eine Person oder einen bestimmten Ort ausgelöst, erklärte mir Sander im Vorfeld. „Manchmal entdecke ich in einer Frau einen bestimmten Typus, den ich unmittelbar mit einer bestimmten Location verknüpft sehe. Oder es passiert umgekehrt, dass ich ungewöhnliche Orte entdecke, die ich dann mit einem bestimmten Typus Frau inszenieren möchte. Anders ist es, wenn ich die Person kenne. Dann fotografiere ich sie sehr gern in ihrer privaten, vertrauten Umgebung und lasse mich sozusagen vor Ort zu einer Bildidee inspirieren. In der vertrauten Umgebung habe ich auch die größte Chance, die persönliche Wahrheit der zu fotografierenden Person aufzuspüren. Und das ist mir in meiner Arbeit ganz besonders wichtig.“
Carsten Sander und ich kennen uns schon länger. So kam es dann wohl zu Variante drei. Doch wo genau sollte bei mir zu Hause fotografiert werden? „Ich sähe dich gern dort vorn in der Büchervitrine.“ Damit fing es an. Meine Begeisterung hielt sich in Grenzen. Weniger aufgrund der Vorstellung, mich in einen Schrank stellen zu müssen, als in der Vorstellung der hierfür erforderlichen Vorbereitungen. Es ging daher weiter auf Hausbesichtigungstour. Beim Blick von der Treppenbrüstung nach unten in den Eingangsbereich entdeckte Sander auf einmal mit leuchtenden Augen das Spielzeugauto. „Leg dich doch mal unten auf den Teppich vor das Auto“, forderte er mich kurzentschlossen auf. Gesagt, getan. Das erste Testfoto mit dem Handy entstand. Daumen nach oben. „Das Sofa hier vorn ist auch gut.“ … Weitere Testfotos folgten. Im nächsten Schritt wurden diese Fotos dann an die Stylistin Claudia Melzer weitergeleitet, die daraufhin verschiedene Outfits zusammenstellte.
Mit zahlreichen Koffern und Taschen beladen steht das Team nun heute vor meiner Tür: Neben Carsten Sander und Claudia Melzer ist auch die Visagistin Eva Mittmann dabei. – Und es geht auch gleich los. Kleider, Schuhe, Accessoires und Make-up wandern ins Wohnzimmer, die Fotoausrüstung nebst Studioleuchten in den Eingangsbereich.
Es folgt eine kurze allgemeine Beratschlagung zum Outfit. Kleid? Wir sind uns schnell einig, mit dem kleinen Schwarzen zu beginnen und dann weiter zu probieren. Make-up und Haare? „Chefig“ hätte Sander mich gern, die Haare „organisiert wild“. Mein Verwandlungsprozess beginnt. Währenddessen wird im Hintergrund bereits Set 1 aufgebaut. Seine Bildideen müssten wachsen, erzählt Sander. Zuviel Planung zerstöre Atmosphären. Es geht also unzählige Male die Treppe rauf und runter, bis Dank meines „Licht- und Positions-Double“ Claudia alles für meinen Auftritt vorbereitet ist.
… in den Vorbereitungen mit Eva Mittmann
Das Licht sei für ihn von besonderer Bedeutung. „Ich bin ein großer Fan der Lichtinszenierungen in der Fotografie der 1920er Jahre. Es findet sich darin etwas Geheimnisvolles, Mystisches – und das unabhängig vom Genre. Die Schwarz-Weiß-Fotografie unterstreicht dabei zusätzlich die Dramaturgie. Ich denke, dass ich mich auch deshalb bei dieser Serie für die Umsetzung in Schwarz-Weiß entschieden habe,“ erzählt er mir, während er mein Double Claudia ausleuchtet.
Jetzt wird’s ernst. Das Shooting beginnt. Ich lege mich in vorgegebener Verrenkung auf den Teppich, wo mich gerade das kleine Auto angefahren hat: „Das linke Bein ein bisschen mehr anwinkeln, den rechten Arm lockerer, die Augen weiter auf, den Kopf ein bisschen weiter nach links …“ Zwischendurch immer wieder Claudia, die schnell noch den Rock ein bisschen richtet, die Tasche ein wenig verschiebt oder eine Locke zurechtrückt. Aufregend! Ich fühle mich ein bisschen wie bei Germanys Next Topmodel. Und dass alles für die Kunst! Dann heißt es irgendwann: „Stopp“, und es folgt die erste Sichtung auf dem Computerbildschirm. Konzentriert studiert Sander die Bilderfolge. „Hat doch was von Hitchcock, oder?“, fragt er lachend. Wir nicken alle zustimmend. „Vielleicht versuchen wir aber doch noch einen Durchlauf mit dem roten Kleid und die Beine gestreckt?“ Wieder: gesagt, getan.
… am “Set” mit Claudia Melzer und Carsten Sander
Anschließend folgt der Aufbau von Set 2. Den Impuls zu dieser Bildidee lieferte meine Karnevals-Felldecke, die Sander zwischenzeitlich entdeckt hatte. „Mal kein Kleid sondern einfach in die Decke einwickeln … fände ich gut.“ „Du erinnerst mich gerade an eine dänische Filmdiva. Die Szene kommt so schön dekadent rüber“, begeistert sich Claudia während sie an der Decke zupft. Wieder eifriges allgemeines Nicken. Zum Abschluss dann noch Set 3. Um mich „chefig“ zu inszenieren, wird spontan auch Claudia eingebaut. Mit mir allein im Bild kommt Sanders Vision nicht rüber. Es braucht noch eine „Untergebene“. Die Bildidee Chefig wandelt sich in Master and Servant.
Nachdem das letzte Bild „im Kasten ist“ [klingt schöner, als „auf der Speicherkarte“], bleibt uns noch ein bisschen Zeit uns zu unterhalten. Was mir im Rückblick spontan auffällt, ist die Übereinstimmung unserer erinnerten Bilder. Ob Hitchcock, dänische Filmdiva oder Master and Servant, wir waren uns immer sofort einig. „Spielst du bei deinen Motiven mit den Bildern unseres kollektiven Gedächtnisses?“, frage ich daher. „Das bleibt nicht aus. Ich bin schließlich auch selbst von diesem Gedächtnis geprägt, ohne dass es mir bewusst ist. Dennoch spiele ich auch gern damit und kreiere aus dem Zusammenbau einzelner Fragmente neue Märchenwelten. Es macht mir Spaß, Geschichten in den Menschen ‚einzuspüren‘ und Fantasien anzuregen. Gern auch erotische Fantasien. Dekadenz und Erhabenheit spielen eine große Rolle in der Serie Pipistrella“, lautet seine Antwort. „Ist es nicht unglaublich schwierig, in der Vielzahl der Bilder eine Auswahl zu treffen?“, möchte ich abschließend wissen. „Doch. Das ist immer wieder sehr schwierig. Beim Fotografieren versuche ich ja bereits die Facetten des Menschen, den ich gerade fotografiere, auf den Punkt zu erwischen. Es ist eine Suche nach den wahrhaftigen Momenten. Diese Momente gilt es dann in dem großen Konvolut aller Bilder zu finden“, bestätigt mir Sander. Ich bin sehr gespannt, für welche „meiner“ Bilder er sich entscheiden wird …
Elke Backes und Carsten Sander
Eine Woche später. Der spannende Moment ist gekommen. Carsten Sander hat mir seine Auswahl gesendet. Ein seltsames Gefühl erfasst mich bei der Betrachtung der Bilder.
… das ausgewählte Foto für die Pipistrella-Serie
Selbstkritisch studiere ich jedes einzelne. Erkenne ich mich wieder? Findet sich in diesen inszenierten „Märchenwelten“ meine persönliche Wahrheit? Lassen sich in Märchenwelten überhaupt Wahrheiten finden? Ich bin überfordert und befrage mein Umfeld. Die Reaktionen sind erstaunlicherweise immer die gleichen. Beim Motiv Hitchcock: „Dein Blick. Der ist ja irre. Das Auto – es hat eine Beule. Ist es echt kaputt?“ Beim Motiv dänische Filmdiva: „Uiii, edel!“, kurze Pause, dann: „hast du da nichts drunter?“ Beim Motiv Master and Servant ein selbstzufriedener, wissender Blick à la „Hab-ich-doch-immer-schon-gewusst“, das Ganze immer unausgesprochen, aber dennoch eindeutig. Zusammengefasst muss ich jedoch feststellen, dass meine Frage nach der persönlichen Wahrheit dabei nicht beantwortet wurde. Im Vordergrund des Betrachters stehen offensichtlich die Geschichten, die er/sie mit den Bildern in Verbindung bringt und weniger die Frage nach meiner Authentizität. Aber – bedarf es denn nicht einer solchen Authentizität, um eine Rolle glaubwürdig inszenieren zu können, frage ich mich. Es scheint funktioniert zu haben, ohne dass ich darüber nachgedacht habe. Seltsam.
Ist es vielleicht das, was Carsten Sanders mit persönlicher Wahrheit zum Ausdruck bringen wollte? Definiert sich hiermit nicht zugleich auch seine Handschrift? Es gelingt ihm offensichtlich, in einem Blick, einer Bewegung oder Haltung Geschichten oder anders formuliert, eine zu verkörpernde Rolle in einer Person „einzuspüren“. Er hat das Gespür dafür, eine Rolle richtig zu besetzen und somit glaubwürdig zu inszenieren. Und die Inszenierung und der Bildaufbau selbst? Es ist die Kulisse, die unseren Blick in den Bann zieht, die Outfits, die hierzu in Abstimmung gebracht sind, die bewusste Inszenierung von Licht und Schatten, die den Fokus immer auf das Modell gerichtet hält. Dekadent und selbstbewusst beherrschen die Frauen ihr Spielfeld. Es ist die Komposition aus alldem, die unsere Fantasie anregt und uns entführt in die märchenhafte Welt der Schönheit.
Und jetzt Hand aufs Herz: Lassen wir uns nicht gern dorthin entführen?
WEITERE INFORMATIONEN
… zu Carsten Sander: http://www.carstensander.com
… zu Heimat. Deutschland – Deine Gesichter: heimat. Deutschland – Deine Gesichter