Von Gurken, Früchten und Tänzerinnen
Heute geht es nach Essen, Stadtteil Werden. Idyllisch im Grünen, unmittelbar an der Ruhr gelegen, führt mich eine Allee zum ehemaligen Wasserwerk der Krupp Stahl AG, dem heutigen Wohnhaus und Atelier der Familie Brus. Hinter einer Toreinfahrt liegt das denkmalgeschützte Industriekulturerbe. Die auf dem Grundstück abgelegten Plastiken deuten unschwer auf den Arbeitsplatz von Johannes Brus, einem der Großen der Düsseldorfer Akademie-Absolventen der 1960er Jahre. Seit über 40 Jahren ist er nun schon erfolgreich als Fotograf und Bildhauer am Kunstmarkt etabliert.

Bild 1: Eingang ins Bildhaueratelier – Bild 2: Fünf Bildhauer, 2004–2006 – Bild 3: Elefantenkopf, 1986
Er begrüßt mich gemeinsam mit seiner Frau Monika. Schon im Eingangsbereich wird klar – in diesem Haus wird Kunst gelebt. Fotoarbeiten an der Wand, eine nahezu lebensgroße Pferdeplastik auf dem Flur und die Plastik Igor und Olga auf einer alten chinesischen Truhe bilden das vielversprechende Empfangsensemble. Nur eine Glaswand trennt den Eingangs- vom Wohnbereich, wo schon einzelne der Brancusi-Paraphrasen zu erkennen sind, die ich noch im Frühjahr im Lehmbruck Museum gesehen habe. Meine Vorfreude steigt.

Ohne Titel
Erst einmal wird Kaffee gekocht und ich darf mich inzwischen in Ruhe umschauen. Leben und Arbeiten liegen hier dicht beieinander. Ebenso wie die Kunst fasziniert mich die Architektur. In die ehemalige Industriehalle wurden lediglich einzelne Glaswände und eine Galerie eingezogen, so dass transparente Einzelräume und eine zweite Geschossebene entstanden sind. Große Rundbogenfenster lassen die Sonne hereinströmen und geben den Blick auf den alten Baumbestand frei.
In den abgetrennten Räumen hinter Essbereich und Sofaecke sieht es nach Arbeit aus. Auf dem Tisch liegen unzählige Fotoabzüge, Schnipsel von Abzügen, Farbtoner, Entwickler, Scheren und … ein Bügeleisen (?). Auf dem Boden verstreut und angelehnt an den Wänden liegen und stehen große Papierrollen – vermutlich ebenfalls Abzüge. Insgesamt sind das wohl die Zutaten für die Entstehung einer typischen Brus’schen Fotoarbeit? Johannes Brus kommt zu mir herüber. Auf meine Aussage, dass mir in seiner aktuellen Ausstellung [TZR-Galerie in Düsseldorf] das Geistertuch so gut gefällt, greift er gezielt eine der Papierrollen heraus und rollt verschiedene Geistertuch-Abzüge auf dem Boden aus. Als Beschwerer fungieren massive, angerostete Eisenschrauben! Brus sieht meinen entsetzten Gesichtsausdruck und lacht: „Das mache ich auch immer gern, wenn Galeristen kommen. Meine Arbeiten müssen das aushalten können.“ In der Tat. Das müssen sie wohl, wie ich gerade beispielhaft demonstriert bekomme. Mit unzufriedenem Blick betrachtet er den vor uns liegenden Abzug: „Den muss ich wohl noch mal abwaschen und ein bisschen mit der Bürste bearbeiten.“ „Wie, abwaschen? Wo denn?“, frage ich mit Blick auf das riesige Format. „In der Badewanne“, lautet die Antwort. Ich stelle mir das Prozedere vor und frage pragmatisch, ob das nasse Papier denn nicht reißen könne, von der Bürste mal ganz zu schweigen. „Doch. Das kann passieren. Das war’s dann.“ Was für eine gruselige Vorstellung …

Maharadschas, 2002
Aber es sind eben genau diese Experimente, die seinen Arbeiten die besondere, verwunschene Stimmung verleihen und jeden Abzug zum Unikat werden lassen. Im Zusammenhang der Bildbearbeitung ist bei ihm alles erlaubt. So werden Negative mal scharf, mal unscharf abgezogen, Positive in Negative umgekehrt, Farben mit Toner manipuliert, Konturen nachgezeichnet oder mit dem Schwamm verwischt, collagiert oder nachträglich mit schwarzer oder weißer Lackfarbe überarbeitet. Vor diesem Hintergrund erklären sich mir dann auf jeden Fall die umliegenden Utensilien.
Doch jetzt geht es erst einmal an den Kaffeetisch.

Elke Backes und Johannes Brus
Schnell wird klar, Monika und Johannes Brus sind ein eingespieltes Team. Unterhaltsam erzählen sie mir von ihren Anfängen und lassen mich eintauchen in die Kunstszene der 1970er Jahre. Eine wichtige Station sei 1973 die Teilnahme an der Ausstellung 14×14 in der Kunsthalle Baden-Baden gewesen. In kürzester Zeit musste hierfür die Tellerspirale gefertigt werden. Das bedeutete 80 rein weiße Teller auftreiben [zu dieser Zeit sehr schwierig, da jeder Teller mit einem Dekor verziert war], 20–30 in Polyester abgegossene Gurken fertigen und einige Quadratmeter Rasen und Gestrüpp ausstechen. Alles sollte so präsentiert werden, wie es der Entwurf vorsah. „Neben Tellerkauf und Rasenausstechen war der Gestank in unserer Wohnung das Allerschlimmste. Unser Backofen war hin. Über Wochen konnten in unserer Küche keine Lebensmittel mehr zubereitet werden“, erzählt Monika Brus und verdreht die Augen. Der Grund für dieses Desaster war, dass es die knappe Zeit nicht zugelassen hatte, den Polyester auf übliche Art und Weise aushärten zu lassen. So hatte dann der Backofen die Beschleunigung herbeiführen müssen. „Aber so war das damals“, erläutert ihr Mann die chaotische Grundhaltung, die allgemein herauszuhören ist. „Wir haben vieles ausprobiert. Da konnte es dann auch schon mal passieren, dass ein Backofen dran glauben musste und man einen Chemie-Unfall riskierte. Wir nahmen das alles nicht so ernst.“ Und das ist dann auch schon direkt das passende Stichwort für die nächste Geschichte.

Tellerspirale, Abzug von 1973
Brus erinnert sich an eine Gemeinschaftsausstellung in London: „Da gibt es doch diesen Katalog …“, und macht sich sofort auf den Weg. Kurz darauf wird der Katalog vor mir ausgebreitet. Es ist eine Zusammenstellung von DIN A4 Fotos. Und was für Fotos! Kultig ist gar kein Ausdruck. Es sind Zeitdokumente der Hippie-Ära. Gemeinsam blättern wir durch die einzelnen Seiten auf denen sich alle, wirklich ALLE bekannten Protagonisten der Düsseldorfer und Kölner Kunstszene wiederfinden. Monika Brus, die wie ihr Mann damals Bildhauerei an der Akademie studiert hatte, tippt amüsiert auf die einzelnen ,Gestalten’. Wahnsinn, denke ich mir und wünsche mir eine Zeitmaschine, die mir ermöglichte, wenigstens ein einziges Mal dabei sein zu können. Stundenlang könnte ich noch zuhören, aber … zum Atelierbesuch gehört noch das Bildhaueratelier.
Bild 1: Tänzerinnen, 2015/16 vor Brancusi-Paraphrasen, 2002 – Bild 2: Elefantenkopf, 1986
Das Paradies eines jeden Brus-Fans offenbart sich bei diesem Anblick. Da stehen sie alle versammelt: die Tänzerinnen, eingerahmt von Brancusi-Paraphrasen und Gespenst, Tierplastiken in allen Variationen und natürlich die Kontrollerin, die mit ihrem Blick der erhabenen Überheblichkeit das gesamte Szenario im Griff zu haben scheint. Auch hier wird experimentiert: Mit Material, Form, Oberfläche und … natürlich wieder mit Farbe. „Wie bekommt man denn eine solche Farbstruktur hin“, frage ich verwundert beim Anblick einer der Tänzerinnen. Die Antwort ist ähnlich der zuvor im Zusammenhang mit der fotografischen Bildbearbeitung, doch gesellt sich hier noch ein ungewolltes Experiment hinzu: „Ich habe versehentlich eine Tasse Hagebuttentee über der Figur verschüttet. Nach anfänglichem Schreck war ich begeistert über das Ergebnis, das sich daraus entwickelt hat. Das war dann mal eine völlig neue Ausgangssituation,“ berichtet Brus enthusiastisch. Mich würde nicht wundern, wenn zukünftig auch die Fotoabzüge mit Tee überschüttet würden …

Bild 1: Kontrollerin, 2008–11 – Bild 2: Detail Tänzerin, 2015/16
Abschließend möchte ich noch gern wissen, was es eigentlich mit der Gurke auf sich hat, die sich so häufig sowohl in seinen fotografischen wie bildhauerischen Arbeiten findet. „Auslöser war ein Buch von [Albert Freiherr von] Schrenck-Notzing, das irgendwann in der Akademie in Umlauf war“, wird mir erklärt. „Parapsychologische Experimente waren plötzlich das große Thema. Dinge mittels Hypnose in Bewegung zu setzen. Und genau das wollten wir in die Kunst übertragen. Warum hierfür nicht einfach das klassische Stillleben umkehren und anstelle ,stiller’ Früchte bewegte Früchte abbilden? Ich wollte aber keine Frucht, die vom Motiv schon besetzt ist und habe mich daher einfach mal für die Gurke entschieden.“ So erklären sich dann die legendären Bilder der fliegenden und tanzenden Gurken über dem Holztisch des Brus’schen Gartens. Aus diesen Bildern habe sich dann darüber hinaus die Idee entwickelt, die Motive auch in die Bildhauerei zu übertragen. Seither, so Brus, seien seine fotografischen Arbeiten für ihn die wesentlichen Impulsgeber für sein bildhauerisches Schaffen.
Einzelblatt aus Gurkenparty, 1970
Fotografie als Inspiration und Vorlage für die Bildhauerei? Oder auch umgekehrt, Bildhauerei als Inspiration und Motiv für die Fotografie? Einfach die Frage, wer inspiriert wen? Das ist doch eine der bedeutenden Fragestellungen der kunstwissenschaftlichen Forschung, denke ich plötzlich. Und die fliegenden oder austarierten Gurken? Das „bewegte“ Stillleben? Mir wird schlagartig bewusst, dass sich dahinter eine der zentralen Herausforderungen verbirgt, denen sich Künstler seit Jahrhunderten ausgesetzt sehen: Es ist die Momentdarstellung einer Bewegung!
Aber im Rückblick auf meinen Besuch scheint es mir so, als seien diese großen Fragen der Kunst Johannes Brus irgendwie rein zufällig begegnet. Und genau diese Leichtigkeit ist es, die seine Arbeiten ausmacht, die sowohl seine Künstlerfreunde in den 1960er Jahren als auch seine Studenten während seiner Zeit als Professor an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig beflügelt haben muss. Seine Kunst darf Spaß machen oder auch in kunstwissenschaftlicher Tiefe erforscht werden. Ganz im Sinne des Betrachters …
Weitere Informationen
… Editionen von Johannes Brus sind ab sofort über den Online-Verlag einsvonelf erhältlich: http://www.einsvonelf.de/artists/johannes-brus/
… zur Ausstellung im Lehmbruck Museum „Probe zu: Tanzen für Brancusi“ (in Kooperation mit dem Museum DKM) im März 2016: http://www.lehmbruckmuseum.de/wp-content/uploads/2013/03/Pressemappe-Johannes-Brus-Website.pdf
Bis 29. Oktober sind insbesondere seine Frühwerke zu sehen in: Düsseldorf – TZR Galerie. http://www.tzrgalerie.de/blumebrus.html