Fotos: Sarah Schovenberg
Berlin, 3. Februar 2017: Nur schemenhaft nehme ich den Gebäudekomplex des stillgelegten Wasserpumpwerks Prenzlauer Berg wahr. Zu sehr bin ich damit beschäftigt, die Sprechanlage zu hypnotisieren, nachdem ich – einmal tief durchatmend – den Klingelknopf gedrückt habe. Das fröhliche: „Hallo. Kommt rein!“, lässt mich aufatmen. Das Tor wird elektrisch geöffnet. Erst jetzt realisiere ich die wunderschönen klassizistischen Backsteinfassaden der Industriebauten, die gusseisernen, in Sprossen unterteilten Fabrikfenster, den schlanken Turm, der sich dem Himmel entgegenstreckt. Doch wohin jetzt, frage ich mich ein wenig verloren. Eine Tür öffnet sich und da steht er. Jonathan Meese in seiner allseits bekannten Uniform: Schwarze Hose, schwarze Adidas-Trainingsjacke. Meese, das – so die allgemeine Formulierung in der Presse – „Enfant terrible der Kunstwelt“ oder auch der „Skandalkünstler“. Davon ist im Moment aber auch wirklich gar nichts zu spüren. Herzlich werden wir begrüßt und hereingebeten.
Wir lernen Stephan kennen, einen seiner Assistenten. Stephan bearbeitet gerade mit feinstem Pinsel den Rahmen eines großformatigen Gemäldes, das für eine der nächsten Ausstellungen vorbereitet wird. Konkret gesagt, für die Ausstellung anlässlich der Verleihung des Hans-Platschek-Preises auf der art KARLSRUHE oder für die im Carré Sainte-Anne, einer profanierten Kirche in Montpellier. Insgesamt wirkt der Raum wie das professionelle Depot eines Museums. Horizontale wie vertikale Lagerregale ordnen die zahlreichen Gemälde, die offensichtlich in Kürze auf die Reise geschickt werden. Wir gehen weiter in die riesige Halle des Ateliers, die das klassische Loftflair ausstrahlt.
Das Atelier
Ich weiß nicht, wo ich zuerst hinschauen soll … Gegen die Wand gelehnt stehen sie und ziehen mich wie magisch an. Die brandaktuellen Werke. Auch hier sind es überwiegend Großformate. Bunt, laut und witzig, grausam und ungestüm scheinen sie mir ihre Präsenz entgegen zu schreien. Vor ihnen auf dem Boden liegen neue, noch jungfräuliche Leinwände, bereit für ihre erste Farb-Dusche, die sich in Kürze über sie ergießen wird. Er arbeite immer auf dem Boden, erklärt Meese. Eine erste Farbschicht, die je nach Stimmungslage geschüttet, gepinselt, gewischt oder geschmiert wird, entscheide häufig über das weitere Vorgehen. „Über den Prozess des Trocknens entwickelt sich ein erstes Eigenleben. Es entstehen Figuren oder Formen, die nicht vorhersehbar sind und mich zu neuen Figuren inspirieren.“ Leuchtet ein. Ich verliere mich gerade in der Suche nach Dingen, die mein Gedächtnis beim Anblick der Bilder hervorsprudelt. Ich sehe Fische, Science-Fiction-Figuren, eine Mutter Gottes, Zahnpastastreifen …
Auch die Titel ziehen mich in ihren Bann: DON BULLETIN, PARSIFALL’S SÜSSIGKEITINS, KLINGSOR’S, … Soll man hier noch nach dem Sinn fragen? Alles scheint surreal und schräg. Spannend sind auch die skurrilen kleinen Dinge, die es überall zu entdecken gibt. Beispielsweise der „tanzende Mopp“, den Meese begeistert vorführt, als er mein Interesse daran bemerkt. „Ich sammele einfach ALLES. Das macht mir einen riesigen Spaß. Sinnlos sammeln. Ob es irgendwann zum Einsatz kommen wird, ist dabei ungewiss und auch völlig egal. Schon allein wegen meines Sammlungswahns brauche ich viel Platz“, erzählt er in Vorausschau auf die Gesamtlagerfläche des Pumpwerks, die wir gleich noch zu sehen bekommen werden.
Mein Blick wandert weiter durch den Raum. Prallvolle Bücherregale sind zu sehen, Farbmaterialien in einer schier unendlichen Vielfalt … Doch, allem Wahnsinn und irrwitzigen Trash zum Trotz fällt auf, dass der Atelierraum selbst organisiert, ordentlich, geradezu clean ist. Die aktuell nicht verwendeten Farbtuben liegen beschriftet und sortiert im Regal, die übrigen Farben sind je nach Material auf Tischen und Paletten zum Gebrauch aufgestellt. „Wie passt dieser Gegensatz zusammen?“, frage ich. „Dafür ist meine Mutter verantwortlich. Sie hält den Laden unter Kontrolle, überwacht die Bestände, systematisiert mein stetig anwachsendes Sammlungskonvolut, ist jeden Tag im Atelier …“, berichtet Meese stolz über seine 86-jährige Mutter, die eine zentrale Rolle in seinem Leben spielt. Die Ordnungsliebe von Brigitte Meese bekommen wir während des gesamten Rundgangs vor Augen geführt. Ihre Zettel sind allgegenwärtig. Während im Atelier noch ein Zettel mit der Aufschrift: „Wir haben unendlich viel Weiß“ streng auf Überbestände hinweist, wird mit den an den Kisten geklebten Zetteln in den Lagerregalen des Nebenraumes das Ordnungsschema des Sammlungsdepots vorgegeben. „Puppen und Puppentiere“, „Stofftiere und Meerestiere“, „Barbie-Spielzeug“, „kleine Puppen“ oder einfach „Kleinkram“ ist darauf zu lesen; die Zettel lassen mich unweigerlich an das Lager eines Spielwarengeschäftes denken.
Es geht weiter. Wir gehen die Eisentreppe hinunter und landen in den unterirdischen Gängen des früheren Pumpwerks. Es ist wie eine Führung durch ein Technikmuseum. Vorbei an altertümlichen Maschinen landen wir an einem monströsen Kühlbehälter, der aussieht wie eine Mischung aus einer alten Dampflok und dem Unterseeboot von Kapitän Nemo. Dachte ich hier noch an die ideale Kulisse eines Filmsets, steigert sich dieser Eindruck mit dem Eintritt in die ehemalige Maschinenhalle, die nun als Lager dient. Verpackte Kunstwerke, eingerahmt von eisernen Pumpanlagen, schimmern geheimnisvoll im Licht einer nostalgisch anmutenden Laterne (s. Titelfoto). Ergänzt wird die Szenerie von – wie könnte es anders sein – weiteren Skurrilitäten. Ein Durchgang führt von dort in eine Art White-Cube, der mittels Leichtbauwänden innerhalb des Großraums eingezogen wurde. Auch hier sind riesige Gemälde aufgestellt. Auf dem Boden liegen Masken. „Die sind gerade erst fertig“, erzählt Jonathan Meese. „Es sind die Masken für Parsifal. Hier experimentieren wir auch mit dem Bühnenbild.“ Zu Parsifal gleich mehr. Zur Erkundung des Materials streiche ich vorsichtig über die Oberfläche der Masken. „Hierbei handelt es sich um geschöpftes Papier, das ich im feuchten Zustand über vorgeformte Drahtgestelle gespannt habe. Es ist leicht und lässt sich super bemalen“, erklärt Meese, selbst sichtlich begeistert über das Ergebnis.
Bild 1: … am U-Boot – Bild 2: Bündnis mit Bambi – Bild 3: Die Masken Parsifals
Fast schwindelig von diesen vielfältigen Eindrücken geht es zurück ins Atelier, wo wir uns nun zum Gespräch zusammensetzen. Worum geht es in seiner Kunst? Was ist seine Kernaussage? Über die Bildsprache brauchen wir nicht sprechen. Seine Handschrift ist immer deutlich erkennbar. So frage ich schlichtweg: „Worum geht’s eigentlich?“ „Ich möchte spielen. Sonst nichts“, lautet die überraschende Antwort. Spielen? Der überall als angriffslustig und radikal bezeichnete Jonathan Meese möchte spielen? „Soll heißen: Ich will mir nichts vorschreiben lassen, einfach drauflos malen, basteln, performen. Ohne Drehbruch, ohne Anleitung. Das ist es doch schließlich, was bildende Kunst ausmacht. Ihre Freiheit! Ihr Anspruch, KEINE Botschaft zu haben, außer frei sein zu dürfen.“ „Im Laufe unseres Lebens werden wir dazu erzogen uns anzupassen, uns vorgegebenen Ideologien zu unterwerfen, werden sukzessive verbogen und verlieren dabei unsere von Natur gegebene Spielfreude und Ungezwungenheit. Dazu bin ich nicht bereit. Ich bleibe Kind im Kopf. Und wenn mir das jemand kaputtmachen will, werde ich aggressiv“, so Meese. Ich ertappe mich dabei, wie ich versuche, zu entschlüsseln, ob er gerade „performt“ oder ob er tatsächlich er ist.
„Ein Beispiel: Als ich an der Volksbühne nicht nur mich, sondern auch ein Team von Schauspielern zu inszenieren hatte, war es für mich völlig selbstverständlich, dass jeder Einzelne seine Rolle frei zu spielen hatte – ohne Drehbuch! Die große Überraschung bestand für mich darin, zu sehen, dass es einzelnen Schauspielern nicht mehr möglich war, ohne Drehbuch zu spielen. Nicht mehr, weil sie schon zu sehr verbogen waren. Hier hatte das System sichtbar zugeschlagen“, kommentiert Meese seinen Standpunkt zur Freiheit der Kunst. Stimmt! Ich denke gerade an den Kunstunterricht in der Schule, den ich gehasst habe. Vergleiche ich die gemalten Bilder meiner Kinder stelle ich fest, dass in denjenigen aus der Kindergartenzeit wesentlich mehr Ausdruck steckt als in denjenigen, die auf dem Gymnasium entstanden sind. Als ich meine Gedanken ausspreche, bekomme ich lautstarken Zuspruch: „Genau. Ätzend! Ich war total schlecht in Kunst in der Schule. Das ist es, was ich meine. Das Spielen, das Verrücktsein wird unterdrückt und geht verloren. Und was passiert dann? Die Menschen werden frustriert, werden böse, stumpf im Kopf und folgen fremden Ideologien, nicht mehr ihren eigenen. Das ist es, was die gesamte Menschheitsgeschichte begleitet. Doch alles überlebt sich. Nichts hat Bestand. Keine politische Linie, keine Religion. Es gibt nur eine einzige Ausnahme: Die Kunst. Sie besteht seit Beginn der Menschheit und wird auch überleben, solange es Menschen gibt. Weil sie sich schlichtweg mit dem Menschsein auseinandersetzt. Und darum fordere ich einzig und allein die Diktatur der Kunst!“
Hm. So langsam verstehe ich jetzt auch, was es mit den Meese’schen Manifesten auf sich hat. In der „Erzneuesten Gesellschaftsordnung Kunst“ vom 2. Juni 2012 sind beispielsweise Aussagen wie: „Nur die Diktatur der Kunst erzeugt Zukunft“, „Nur Kunst ist ohne Ideologie“, „Kunst garantiert radikalstes Leben und basiert null komma null auf Jenseitsfanatismus“ enthalten. Die Aussagen werden nun für mich als soziale Utopien greifbar, verlieren ihren Fanatismus.
„Was hat es denn mit der Thematisierung der deutschen Mythologie, dem Hitler-Gruß, der häufigen Anwendung der Vorsilbe ‚Erz‘-‚ der radikal anmutenden Typo oder allgemein mit den Wortverdrehungen in den Titeln Ihrer Arbeiten auf sich?“, frage ich gespannt. „Wörter und Zeichen werden in ihrer Bedeutung immer aus der Vergangenheit begründet. Sehe ich nicht ein. Ich hasse dieses ewige nach hinten schauen. Wir müssen nach vorne schauen. Den Blick in die Zukunft richten, uns hierfür öffnen und befreien. Mit der Persiflierung der Wörter und Zeichen der Vergangenheit besetze ich diese einfach neu, entpräge sie, stoße Erhöhungen ab. Es ist mein Mittel, mit der Vergangenheit zu brechen, gleichzeitig Spaß zu haben und zu spielen. Das ist super!“, erklärt Meese kampfeslustig und strahlt.
Parsifal-Mania
Aber jetzt noch zu Parsifal. Nachdem Bayreuth nicht zustande kam, wird es in diesem Jahr nun doch einen Parsifal, inszeniert von Jonathan Meese, geben. In Wien, während der Festwochen. In einer Pressemeldung heißt es: „Der deutsche Künstler wird die Uraufführung einer Neuinterpretation von Richard Wagners Parsifal durch den österreichischen Komponisten Bernhard Lang inszenieren – ein Projekt, das den Wagner-Mythos in ein weit entferntes Revolutionsjahr der Zukunft transportieren wird: ‚MONDPARSIFAL ALPHA 1-8 (ERZMUTTERZ DER ABWEHRZ)‘ ist eine zeitgenössische Würdigung der letzten Wagner-Oper.[1]„Lässt die Inszenierung einer Oper denn die künstlerische Freiheit zu, die Sie fordern? Schon allein die Abstimmung zur Musik schränkt doch massiv ein und stellt Ihr Konzept auf den Kopf“, frage ich vorsichtig. „In der Tat. Die Gefahr besteht. Es ist für mich etwas völlig Neues. Ich kann auch noch nicht sagen, wie ich damit zurechtkommen werde. Das wird sich zeigen. Fakt ist, dass ich in den letzten zwei Jahren meine Parsifal-Manie abarbeiten konnten und jetzt frei dafür bin. Außerdem bin ich der Meinung, dass sich jeder immer neuen Herausforderungen stellen muss. Ich bin einfach radikal überaktiv und muss das ausleben“, platzt es leidenschaftlich aus ihm heraus.
[1] Auszug aus OTS-Originaltext. Presseaussendung unter ausschließlicher inhaltlicher Verantwortung des Aussenders |NEF0004 vom 15. Juni 2016.
Eine letzte Frage: „Schaltet ein solcher Kopf nachts auf Pause? Gibt es einen Jonathan Meese in Freizeit?“ „Schwierig. Klappt aber. Ich arbeite viel, tobe mich dabei aus und bin abends müde. Seit 20 Jahren lebe ich nun schon glücklich mit meiner Freundin zusammen [der isländischen Künstlerin Gudny Gudmundsdottir]. Mein Privatleben ist sehr unspektakulär“, sagt abschließend der „Skandalkünstler“.
Spätestens beim Fotoshooting, das im Anschluss an das Gespräch stattfindet, wird mir eines klar: Jonathan Meese inszeniert heute Nachmittag keine Kunstfigur. Er liebt es wirklich zu spielen, springt von einer Ecke in die andere, kramt ein Requisit nach dem anderen hervor … seine Spiellaune ist schlichtweg ansteckend!
Fotostory “Rollenschmiss”
Seine Forderung nach einer „Diktatur der Kunst“ kommt mir wieder in den Sinn und ich gerate ins Grübeln. Bei „Diktatur“ denke ich doch an eine (be)herrschende Person oder Personengruppe. Wenn Kunst aber frei ist, wie kann sie uns dann beherrschen? Klingt widersprüchlich, oder vielleicht doch nicht? Wäre es nicht eine wunderbare Vorstellung, von Freiheit beherrscht zu sein …?
Ich bin dabei. KUNST AN DIE MACHT!
Kommandozentrale
Weitere Informationen
… zu Jonathan Meese: http://jonathanmeese.com