Text: Dr. Elke Backes, Fotos: Markus Schwer
Wo fängt man an, wo hört man auf, wenn man die Chance hat mit einem Künstler zu sprechen, dessen Werk derart vielschichtig, umfangreich und bedeutsam ist wie seines? Alfonso Hüppi zählt zu den wichtigsten Vertretern der Nachkriegsavantgarde sowie der Postmoderne und ist ein ebenso begnadeter Maler wie Bildhauer, Zeichner und Grafiker.
Meine anfängliche Idee, es mit einer thematischen Eingrenzung zu versuchen, scheitert mit seiner Antwort auf meine Frage, ob es vielleicht eine Werkgruppe oder Schaffensphase gibt, die ihm besonders am Herzen liegt: „Nein. Irgendwie hat alles seine Geschichte und ist deshalb für mich auch von Bedeutung“. Das macht unmittelbar klar, dass man sich diesem Œuvre nur nähern kann, indem man über genau diese Geschichten spricht.
Und das machen wir zwischen Kaffee und Kuchen und dem gemeinsamen Durchstöbern seines wunderschönen Loft-Ateliers in Baden-Baden. In seiner Luftigkeit und Großzügigkeit schafft es der Fülle von Handwerks-Maschinen, Werkzeugen und künstlerischen Arbeiten viel Raum und damit einen perfekten Rahmen. Man kann den Werkprozess förmlich atmen.
Atelierimpressionen
Dass seine künstlerische Karriere erst über die buchstäblichen Umwege ihren Lauf nehmen konnte, erzählt Hüppi gleich zu Beginn unseres Gesprächs.
Hüppi: Ich brauchte eine ganze Weile, bis ich wusste, was ich wollte. Ich fand es wunderbar, Objekte mit eigener Hand zu erschaffen. So entschied ich mich zu einer Lehre als Silberschmied. In vier Jahren Lehrzeit brachten mir virtuose Könner das Handwerk bei. Eines Tages beauftragte mich der Patron ein Gefäß zu entwerfen. Beim Nachmessen des Entwurfs rieb er sich erstaunt die Augen: „Das ist ja alles im goldenen Schnitt“. Von da an wurden alle Zeichnungen und Entwürfe von mir übertragen.
Nach den vier Jahren Lehrzeit wechselte ich zu einem Meister, der Maler, Bildhauer und Kirchengoldschmied war. Es folgten drei Jahre lebhafter Zusammenarbeit, doch suchte ich noch immer nach einem Weg zu völliger künstlerischer Freiheit. Ich schrieb mich in der Kunst- und Werkschule Pforzheim beim Bildhauer Josef Weber ein. Ein strenger und kompromissloser Meister, dem ich viel verdanke. Nach zwei Semestern war mir klar, dass ich alle bürgerlichen Gepflogenheiten hinter mir lassen musste und das tun sollte, wovor ich mich am meisten fürchtete: Reisen in fremde Länder, ohne Geld, ohne Planung, ohne Sicherheit und Sprachkenntnisse.
Ich startete über die Berge per Anhalter in Richtung Italien. Zwischen Schweinen sitzend kam ich nach Griechenland. Nach monatelangen abenteuerlichen Reisen stand ich schließlich vor dem Grab von Hafez in Shiraz, das ich Jahrzehnte später mit meinen Studentinnen und Studenten aufsuchte, um dem großen Dichter die Ehre zu erweisen. Aus der Begegnung entstand das Buch „Unterwegs zu Hafis“.
Der Rückweg über das Schwarze Meer endete in Hamburg. Per Zufall entdeckte ich dort an der Akademie das Studium der Kalligrafie für mich. Nach einem Jahr war ich Dozent für dieses Fach und danach zwei Jahre Dozent für Bildnerisches Gestalten.
Dietrich Mahlow holte mich schließlich 1964 von Hamburg an die Staatliche Kunsthalle Baden-Baden. Ich war zuständig für alle Kataloge, Plakate und Publikationen. Vorbereitungen von Ausstellungen führten mich mit vielen Künstlern zusammen. Besuche bei Hans Arp, Emilio Vedova, Antonio Music, Madame Puni, Tadeusz Kantor, Richard Huelsenbeck und vielen anderen waren eine ungeheure Bereicherung meiner Tätigkeit.
E.B.: Vor diesem gesamten Hintergrund lässt sich das während der kurzen Zeit Ihres Bildhauerei-Studiums entstandene Gipsrelief Pyramide nun auch als eine Hommage an die antike Kultur lesen. Es gilt vielfach als Ihr Schlüsselwerk, weil sich darin schon sehr früh Ihre Vorliebe für klare Formen und die Idee zeigt, über die Dekonstruktion zu neuen Formen zu finden. Insbesondere Paletten und Kisten bildeten hierfür oft die Grundlage. Was hat Sie daran so besonders gereizt?
Pyramide (1958/1959)
Hüppi: Die Auseinandersetzung mit dem Innen und dem Außen. Abweisend außen, anziehend innen. Das sind zwei enorme Kräfte, mit denen man es zu tun hat.
E.B.: Und Sie haben die Kräfteverhältnisse umgedreht und ihrer Eigenschaft beraubt, sie sozusagen ausgetrickst?
Hüppi: Man könnte auch sagen, ich habe Eigenschaften gezeigt, die verhüllt waren [lächelt verschmitzt].
E.B.: Hat Ihnen das Experimentelle dann innerhalb der Kalligrafie nicht gefehlt?
Hüppi: Nein. Weil ich zum einen immer parallel bildhauerisch wie malerisch tätig war und sich zum anderen das Experimentelle auch innerhalb der Kalligrafie findet. Hier ist es das Experiment mit der Linie, die man sehr genau zu beobachten lernt. Ich habe ein Bewusstsein dafür entwickelt, wie sie sich je nach Richtung verändert und was auch die entstehenden Zwischenräume bewirken. Dieses Bewusstsein bildet letztlich die Grundlage dafür, auch bei einer Form nicht nur den Fokus auf die Form als solche zu lenken, sondern auch und vor allem auf das, was sie bewirkt und was somit drumherum geschieht.
E.B.: Der sehr filigrane Umgang mit der Linie zeigt sich insbesondere in ihren Schriften und Zeichnungen, die großflächige Formgebung in Ihren Holzarbeiten. Wie kamen Sie eigentlich auf die Idee ausgerechnet mit Brettern, Paletten und Holzkisten zu arbeiten?
Links: Skizzenblatt im Atelier (2021), rechts: Kiste (1965)
Hüppi: Mein Büro in der Kunsthalle war gleichzeitig auch mein Atelier. Darin wollte ich auch malen. Ich kaufte mir also Leinwände und machte mich ans Werk. Doch spürte ich sofort, dass dieses Material für mich kein Gegenüber war. Dieses Nachgeben der Oberfläche – das war für mich keine Auseinandersetzung. Also schaute ich mich um. Direkt neben meinem Büro war das Lager der Kunsthalle mit jeder Menge Verpackungsmaterial. Doch war es zunächst ein bestimmtes Brett, das ich sofort im Visier hatte. Es war jenes, das der Hausmeister dafür verwendete die Kohleschubkarre über Stufen manövrieren zu können. Ich habe es einfach geklaut und er war stinksauer. Er hieß Tullius. Als ich dann auch noch alle Arbeiten dieser Zeit Tullius nannte, wusste er anfänglich nicht, ob ich ihn zum Narren halten wollte oder er sich vielleicht geehrt fühlen sollte [lacht].
Dieses erste Brett habe ich noch hier. Auch die erste Kiste …
Das „Ur“-Brett auf dem Weg zum Fotoshooting
Das für den Transport vorbereitete, an der Wand lehnende Brett wird kurzerhand wieder ausgepackt und zum Fotoshooting an einen repräsentativen Platz verlagert. Es ist zweifelsohne ein wunderschönes Werk, aber mit dieser Geschichte für mich noch einmal um ein Vielfaches auratisch aufgeladen. Ebenso ist es mit der „Ur“-Kiste, die Hüppi mir als nächstes zeigt.
Hüppi: Sie ist tatsächlich aus der ersten Palette entstanden, die ich bearbeitet habe. Darauf war das Papier gestaffelt.
Die „Ur“-Kiste (1965)
E.B.: Sie erinnert mich in der Farbgebung und auch in der Idee der Materialanwendung an die Brillo Box von Warhol, also Pop Art. Schaue ich mir Ihre frühen Entwürfelungen an, entwickelt aus dekonstruierten Kisten, denke ich sofort an den Ulmer Hocker, eine Designikone von Max Bill. Gab es zu diesem Hocker einen Zusammenhang?
Entwürfelung links (1974/1975/1976), rechts (1976)
Hüppi: Was die Idee-Entwicklung angeht, gab es keinen. Aber ich war mit Max Bill befreundet. Unser Kennenlernen war auch eine besondere Geschichte. Wir hatten uns zufällig bei meinem Galeristen Hans Mayer getroffen. Er fragte mich, was ich zurzeit vorhätte. Ich antwortete, dass ich eine Ausstellung in Hamburg vorbereite. Als er sich daraufhin spontan für die Eröffnungsrede anbot, war ich total überrascht. Ich hatte mir nicht vorstellen können, dass er mit meinem Werk etwas anfangen könnte.
E.B.: In Ihrem Freundeskreis finden sich weitere berühmte Künstlerpersönlichkeiten wie André Thomkins, Jean Tinguely, Daniel Spoerri oder Dieter Roth. Haben Sie sich gegenseitig in ihrem Schaffen beeinflusst?
Hüppi: Wir waren alle sehr eigensinnig. Deshalb eher nicht. Aber es haben sich immer mal wieder gemeinsame Projekte, gegenseitige Förderungen oder auch künstlerische Widmungen entwickelt.
Beispiele von Werken, die im Zusammenhang mit Künstlerfreundschaften entstanden sind. Links: Turm der Liebenden (1997), „Il Giardino di Daniel Spoerri“ in Seggiano, rechts: Tor für Max Bill (1993)
E.B.: Apropos eigensinnig oder vielleicht besser gesagt individuell: Sie waren fünfundzwanzig Jahre Professor für Malerei an der Kunstakademie Düsseldorf. Schaut man sich die Liste derer an, die aus Ihrer Klasse hervorgegangen sind, finden sich bedeutende Namen wie Thomas Rentmeister, Markus Oehlen, Monika Baer, Holger Bunk, Corinne Wasmuth oder Claus Föttinger. Individueller, was das jeweilige Werk betrifft, geht es kaum. In welcher Form haben Sie vielleicht dazu beigetragen?
Hüppi: Mir war es immer wichtig, die Beobachtungsgabe der Studenten zu animieren und ihren Blick auf das zu lenken, was über das eigene Werkschaffen hinausgeht. Deshalb waren für mich die Studienreisen ein so wichtiger Teil der Ausbildung.
E.B.: Diese Reisen gelten als legendär. Neben dem für Studienreisen üblichen Kanon bereisten Sie Länder wie Tunesien, die Türkei, Ägypten, den Iran, Syrien oder Armenien. Die Auswahl der Ziele war vermutlich beeinflusst durch Ihre eigenen Reiseerfahrungen?
Hüppi: Absolut. Weil mich vor allem die Erfahrungen in den Ländern außerhalb des Kanons so stark geprägt hatten, wollte ich auch meinen Studenten diese Möglichkeit geben. Wenn man drei Wochen mit lauter Verrückten unterwegs ist, und an den abstrusesten Orten übernachtet, erlebt man einfach Abenteuer, die auf ewig in der Erinnerung haften bleiben und hiermit auch die Persönlichkeit ausbilden. Und das spiegelt sich dann letztlich auch in der Individualität des Werks.
E.B.: Eine weitere sehr ungewöhnliche Form der Künstlerförderung, die ebenfalls in Verbindung mit Reisen stand, war die Gründung Ihres Projekts Etaneno – Museum im Busch in Namibia. Wie kam diese Idee zustande?
Hüppi: Beim Besuch meines Freundes Erwin Gebert auf seiner neu errichteten Farm in Namibia im Jahr 1998. Er hatte sich seinen großen Traum erfüllt, sich nach jahrzehntelanger Tätigkeit als freier Architekt dorthin zurückzuziehen. Bei Sonnenuntergang saßen wir dann gemeinsam auf der Terrasse – mit einer Flasche Whisky – und er fragte mich, was er denn jetzt machen solle. Ich sagte: „Bau doch ein Museum“. Seine Antwort: „Mach ich!“.
Ich war mehr als überrascht, als dieser Vorschlag auch noch am nächsten Morgen – wir waren ja inzwischen wieder nüchtern – weitergedacht und schließlich sogar realisiert wurde. Ab 1999 reiste ich jeweils mit sechs Künstlern zweimal jährlich zur Arbeit in den Busch. Im Jahr 2011 konnte der Großteil der Werke, verbunden mit einer Ausstellung dem Museum für Neue Kunst in Freiburg im Breisgau übergeben werden, ein anderer Teil ins Museum Windhoek.
Etaneno – Museum im Busch in Namibia
E.B.: Ihr eigenes Werk haben Sie 2020 der Van Ham Art Estate in Köln als Vorlass übergeben. Fünfhundert Arbeiten werden dort bereits wissenschaftlich betreut und es wird dafür Sorge getragen, dass diese weiterhin institutionell präsentiert und dem Kunstmarkt zugänglich gemacht werden. Wie man hier unschwer erkennen kann, steht Ihnen einiges an logistischer Arbeit bevor, um die Menge der noch im Atelier befindlichen Werke für den Transport vorzubereiten. Ist Ihr künstlerisches Schaffen damit abgeschlossen?
Hüppi: Auf keinen Fall. Ich zeichne und male, seitdem ich einen Stift halten kann und werde damit auch nicht aufhören, solange es mir möglich ist. Immer wenn mir danach ist, lasse ich Worte oder Linien auf Papier fließen, die dann irgendwie zur Form finden und später vielleicht zu neuen Objekten führen. Außerdem arbeite ich an den Skulpturen weiter, die noch nicht abgeschlossen sind; beobachte was passiert, wenn ich etwas wegnehme, hinzufüge oder auseinandernehme. So wie immer. Das Selbstverständnis für diese Art der Auseinandersetzung möchte ich niemals verlieren. Das ist für mich wie Atmen.
Einblicke in aktuelle Werkprozesse
Es gibt ihn also doch. Den gemeinsamen Kern, der sich offenkundig im Verborgenen hält, aber vor allem über die vielen Anekdoten für mich im Rückblick zu erkennen gibt.
Es ist die über das Werkschaffen hinausgreifende und immerwährende Auseinandersetzung mit dem Innen, dem Außen und dem Drumherum. Mittels dieser Auseinandersetzung wird genau jene Kunst „ausgeatmet“, die trotz aller Diversität stets die unverkennbare Handschrift von Alfonso Hüppi trägt …
Weitere Informationen
Artisttalk: Wibke von Bonin mit Alfonso Hüppi, 2.9.2021, 18 Uhr
Künstlerwebsite: https://www.alfonso-hueppi.de
Van Ham Art Estate: http://www.art-estate.org/
vertretende Galerien:
Galerie Henze und Ketterer: http://www.henze-ketterer.ch
Galerie Rupert Pfab: https://galeriepfab.de/
Galerie Reinhold Maas: https://galeriereinholdmaas.de
Galerie K: https://galerie-k.art