Das Buch zum Projekt, das Kunst, High Technology und Freizeitspaß miteinander verbindet.
[Lesezeit: 5 Minuten]
Wie soll das denn gehen?, habt ihr euch vermutlich bei dieser Subline gefragt. Und wenn ich jetzt noch hinzufüge, dass es sich um eine von Tim Berresheim ausgetüftelte Fahrradroute handelt, die via App auf maximal 90 Kilometern zu 14 Orten und 17 augmentierten [Erklärung folgt] Kunstwerken im Kreis Heinsberg führt, wird alles noch „krasser“.
Über einen Mix aus Minitour (vier Stationen mit dem Auto!) und Gespräch hatte ich die Gelegenheit, die Hintergründe zur Projektidee und zum Buch zu erkunden. Wir treffen uns in Wegberg, Tüschenbroicher Mühle.
Vorab sei ergänzt, dass der Kreis Heinsberg ein absoluter Hotspot für Fahrradausflügler ist. Kunstfans sah man dort bisher allerdings seltener …
Wir stiefeln gemeinsam durch den Wald und geben ein Bild ab, das mir zuvor nur von Pokémon-Go-Suchtrupps bekannt war: Dem Blick aufs Handy folgt der suchende Blick in die Umgebung und umgekehrt. Ob man den Künstler damit trifft, wenn man diesen Vergleich anstellt?
Berresheim: Nein, gar nicht. Das Projekt ist bewusst niedrigschwellig angesetzt. Indem ich Kunst nicht in einem herausgehobenen Kontext zeige, sondern eine Möglichkeit gebe, sie im Freizeitbereich entdecken zu können, ermögliche ich einen leichten Zugang. Mein Ziel ist es, über die Anwendung der technischen Tools unserer Zeit eine Emotionalität innerhalb des Digitalen hervorzurufen, die zur Auseinandersetzung mit den Bildwelten unserer Zeit einlädt. Soll heißen, bei aller Leichtigkeit ist es mir immer sehr wichtig, dass jedes Werk auch kunsthistorisch getragen wird.
Ich bin gespannt. Das in der App integrierte GPS zeigt an, dass wir unseren ersten Kunstort erreicht haben. Ich richte mein Handy auf den angezeigten Punkt aus und siehe da, mein ursprünglich schon malerisches Bild, das den See mit der dahinter liegenden Burg zeigt, wird um tanzende Objekte erweitert (augmentiert). Zitronen, Ziegel, Hocker, eine Tarotkarte oder Holzscheite fliegen herum und animieren ein fantastisches Schauspiel.
E.B.: Warum lässt sich hier von Kunst sprechen? Ist es die Symbolhaftigkeit der Objekte, ihre Komposition oder die Animation einer virtuellen Bildwelt als solcher?
Überblick mit Wegzehrung, Station 13.
Berresheim: Es ist von allem etwas. Meine ursprüngliche, schon 2004 entwickelte Idee bestand darin, mir ein buchstäbliches Bild meiner Heimat zu machen. Ich bin in dieser Region aufgewachsen, sodass viele Orte mit persönlichen Erinnerungen aufgeladen sind. Ich begann damit, Fotografien von diesen Schauplätzen zu machen, um sie später dreidimensional mit Objekten zu erweitern, die für mich den Bildaufbau vervollständigten. In der Komposition dachte oder denke ich also wie ein Zeichner oder Maler.
Die heutige Technik ermöglicht mir aber viel mehr. Wir sehen im gesamten Projekt Figuren, die digital modelliert und anschließend mit analog entstandenen Motiven aus Zeichnungen überlagert wurden.
Ansammlung modellierter Figuren innerhalb des Projekts Tim Berresheims Bilderreise.
Um auf die Symbolhaftigkeit der Figuren zurückzukommen: Wir befinden uns an einer der letzten Stationen der Route. Ein Ausflug wird meist mit Essen und Trinken abgerundet, was sich für mich symbolhaft in diesen Objekten spiegelt. Doch geht es mir nicht um ihre Entschlüsselung. Vielmehr möchte ich die komplexen Zusammenhänge des Digitalen auf dem Level einer Fibel vermitteln, also denjenigen, die diese Sprache noch nicht sprechen können, ein Tool zur Verfügung stellen, das ihnen über Bilder einen Zugang in diese fremde neue Welt ermöglicht.
Wir fahren zur nächsten Station. Von einer malerischen Kulisse ist hier keine Spur. Eine Wiese mit zwei Bäumen, eingebettet in einem klassisch-bürgerlichen Wohngebiet. Das ist es. Erst mit der App wird dieser Platz zum Kunstort. Eine bunt bemalte Figur, umgeben von fliegenden Pinienzapfen, Holzscheiten und Backwerk, taucht über den zwischengeschalteten Handybildschirm auf und scheint zu versuchen, im dynamischen Sprung die Objekte einzufangen.
Auge und Weltbild, Station 14.
Berresheim: Dort hinten sehen wir meinen alten Kindergarten. Der Platz bringt besonders gut zum Ausdruck, dass es sich insgesamt um Off-Orte handelt, die nicht für Kunst gedacht waren und nur über die virtuelle Bildschaffung in einen Kunstkontext eingebettet wurden.
E.B.: Spielt im gesamten Projekt dann nicht auch der biografische Bezug zu dir eine wesentliche Rolle?
Berresbeim: Nicht direkt. Natürlich senden mir diese Orte auch warme Signale, doch war es für mich von entscheidender Bedeutung, dass diese in der virtuellen Welt noch nicht existent waren. Der dreidimensionale Raum ist nicht kartographiert. Er ist unendlich. Über meine Arbeit möchte ich eine Geographie herstellen und Orte besiedeln. Derzeit wird im Kunstkontext vor allem über NFT [Non-Fungible Tokens] oder Krypto gesprochen. Doch das ist für die meisten wahnsinnig weit weg und unverständlich. Meiner Meinung nach braucht es erst einmal ein stabiles Fundament, eine stabile Geographie, auf der man sich verhalten kann, bevor man an diese Themen herangeht. Deshalb ist es auch völlig egal, ob ich diesen Ansatz im Kreis Heinsberg verfolge oder in New York oder Paris.
Es geht weiter zum Naturpark-Tor in Wassenberg, der für uns vorletzten Station. Vom Parkplatz laufen wir eine abschüssige Straße hinunter. Erneut bietet sich uns eine wunderschöne mittelalterliche Kulisse, bevor sich diese mittels App mit Elementen aus der Popkultur mischt. Den deutlichsten biografischen Bezug stellt hier das Skateboard her, das symbolisch die rasanten Abfahrten des Künstlers zu Jugendzeiten vom höchsten Punkt der Straße bis hinunter zu diesem Platz thematisiert, wie er erzählt.
Rückblick auf den Collé-Berg, Station 1.
Unsere letzte Station ist bereits ohne Animation kaum zu toppen. Kurz vor Sonnenuntergang steuern wir das Areal des Burg- und Kirchbergs in Heinsberg an. Der Kirchturm zur Linken, die Öffnungen in der Burgmauer zur Rechten sowie der ansonsten freie Blick in den Himmel lassen – auch ohne religiösen Bezug – den Moment des Irdischen ins Paradies zum Bild werden. Die Animation ergänzt diese Assoziation um Elemente des Jüngsten Gerichts. Die Tarotkarte zeigt Arkana als Symbol der Gerechtigkeit, eine riesige Sense ist hier eindeutig als Symbol für den Tod erkennbar. Der scheinbar emporsteigende, schlangenartige Strudel sowie die umherfliegenden Früchte lassen sich als Weg ins Paradies lesen.
Ahnung vom großen Haus, Station 7.
Die ideale Station, um noch einmal den kunsthistorischen Bezug aufzugreifen, der sich – wie bereits von Tim Berresheim erläutert – sowohl motivisch als auch in der technischen Umsetzung der Bildwerdung findet.
E.B.: Lässt sich an diesem Beispiel eine Möglichkeit erkennen, alte Phänomene der Kunstgeschichte neu zu verhandeln?
Berresheim: Ganz genau. Über die Art und Weise der Darstellung von Bildern, findet immer eine Auseinandersetzung mit den jeweiligen Lebenswirklichkeiten und Illusionen einer Zeit statt. Unter Anwendung innovativer künstlerischer Tools gilt es, das zum Ausdruck zu bringen. Ich denke nicht, dass dies heute – wie für die Avantgarden typisch – über einen radikalen Bildbruch geschehen muss. Andernfalls liefe man Gefahr, dass alles Digitale in einer eigenen Gattung der Computerkunst ausgegrenzt würde. Ich sehe es vielmehr als eine Fortschreibung der Kunstgeschichte, wenn in der Schnittstelle von analoger und digitaler Welt alte Phänomene neu verhandelt werden.
Mit diesem Projekt wurde dahingehend ein kunsthistorisches Novum geschaffen, dass Dank der Vermessungsmöglichkeiten des Laserscanners physikalisch perfekte Was-wäre-wenn-Situationen zu sehen sind, die früher nur über die Malerei visualisiert werden konnten. Seit der Moderne versuchte man, sich solcherart Situationen über die Collage fotografischer Bilder oder über die Inszenierung zu nähern. Die Collage aus verschiedenen Fotografien beinhaltet aber immer das Problem, dass jede Aufnahme in einer anderen Lichtsituation entstanden ist. Der Laserscanner hingegen gewährleistet diesbezüglich eine absolute Neutralität. Indem ich verschiedene durch ihn berechnete Bilder übereinander gelagert, malerisch bearbeitet und abschließend die Belichtung und Reflexion bestimmt habe, sind Collagen entstanden, die nicht mehr als solche erkennbar sind. Oder anders gesagt, es sind perfekte Illusionen.
Mein Fazit zur Buchempfehlung
In der Tat. Alles in allem perfekte Illusionen inmitten der „Krass reale[n] Gegenwart“, die uns Bilder zwischen Fiktion und Wirklichkeit zeigen. Bilder als Spiegel der Lebenswirklichkeit unserer Zeit.
Wer mehr über die kunsthistorischen Bezüge und das Projekt erfahren möchte, dem sei das gleichnamige Buch mit Texten von Hans-Jürgen Hafner sehr empfohlen. Dank des Layouts und der Bebilderung ist es gut lesbar und macht Lust auf die eigene Erkundung und Entdeckung Tim Berresheims fantastischer virtueller Kunstwerke im Heinsberger Land.
„Krass reale Gegenwart. Tim Berresheims Bilderreise.“
Weitere Informationen
… über den Künstler: https://timberresheim.de
… über seine „Werkstatt“: https://studiosnewamerika.com
Link zur Buchbestellung: https://studiosnewamerika.com/produkt/tim-berresheim-tim-berresheims-bilderreise-katalog-pocketguide/