Fotos: Kevin Mananga
Er ist ein Künstler, der alle Klischees eines Bohemiens bedient. Bereits seit seinem fünfzehnten Lebensjahr lässt Bernhard Martin seiner schier unbändigen Abenteuerlust freien Lauf. Unkonventionell und exzessiv folgt er seinen Ideen zur Kunst. Glücksspiel, Drogenkonsum, Fälschungsdelikte oder das Leben auf der Straße gehörten einfach irgendwie dazu, weil „an die Grenzen der Gesellschaft zu stoßen“ für ihn Kunst bedeutet.
Im Ergebnis finden sich sehr besondere Bildwelten von ihm komponiert, die in den prominentesten Sammlungen der Welt, wie beispielsweise der des MoMa in New York oder der des Arario Museums in Seoul vertreten sind und regelmäßig in ebenso prominenten Ausstellungshäusern präsentiert werden.
Mit meinem Besuch in seinem Atelier in Berlin versuche ich, den Rätseln seiner oft grotesken Fantasiewelten auf den Grund zu gehen. Das Wort explosiv trifft am besten die geballte Ladung multipelster Gedankenströme, die mir in unserem Gespräch entgegengewirbelt werden.
Doch zunächst einmal darf ich seine Kreativstätte erkunden. In jedem Winkel seines den Flair einer klassischen Berliner Altbauwohnung ausströmenden Studios, gibt es etwas zu entdecken. Aufgezogene Leinwände, angerührte Farben, Malwerkzeuge, Skizzen oder auch unfertige Gemälde lassen erkennen, dass im vorderen Bereich gearbeitet wird, während es auf dem Weg in Richtung Garten immer wohnlicher wird und sich seine Sammelleidenschaft für Kunst zu erkennen gibt. Überwiegend eigene Arbeiten finden sich dann stimmungsvoll im letzten Raum in einem Setting inszeniert, das der Neuverfilmung eines englischen Literaturklassikers entsprungen zu sein scheint.
Studio-Impressionen
„Das ist mein Kabinett mit therapeutischer Couch. Hier schlafe ich auch ab und zu, wenn es mal spät geworden ist“, lautet die Erläuterung zur Nutzung. „Und das ist meine Darstellung des Dorian-Gray-Bildnisses. Mal im Perspektivwechsel aus der Sicht des Bildes.“ [s. Abbildung unten].
Mit dem Literaturklassiker lag ich also intuitiv richtig. Doch was den Inhalt des Gemäldes betrifft, so ist es in diesem Fall der Perspektivwechsel, der die typische Irritation auslöst und die als geradezu stilistisches Merkmal die Kunst von Bernhard Martin bezeichnet. Immer ist etwas Bekanntes darin zu sehen, das dann aber irgendwie nicht zum Rest passt. Warum?
Martin: Weil es mir um die reine Darstellung überhaupt nicht geht, sondern vielmehr um die Illustration oder anders gesagt die Mutationen, Wendungen, Metamorphosen der Sprache, dem Erfinden von Geschichten mit Malerei.
E.B.: Was meinst du damit genau?
Martin: Man muss meine Bilder abstrakt sehen, ich selbst bin ja morbid und eine Mutation. Es sind Fantasiegebilde, die eine andere Ebene als die der Realität spiegeln. Wahrheit und Realität sind für mich das absolut Langweiligste, was es gibt. Auch in der Kunst. Für mich ist die Gesinnungsfrage, die sich hinter der reinen Darstellung verbirgt, viel spannender. Die Malerei, oder welches Medium auch immer, ist nur ein Tool, um einen Transfer zu etwas anderem herzustellen. Das können Inhalte sein oder auch formale Verweise auf das Medium als solches. Wie ich beispielsweise im Dorian Gray-Bild den Rahmen als Element der Malerei oder in anderen Bildern unterschiedlichste Gedankenabenteuer visualisiere.
o.l.: Warten auf das Andere (2014), o.r.: Cooks of Harmony (2019), u.l.: Au dessus et en Dessous de l Avant (2020), u.r.: Elysian Fields (2017)
E.B.: Sind es deine persönlichen oder allgemeine Gedankenabenteuer?
Martin: Sowohl als auch. Allgemein sind es jene Gedankenabenteuer, die über unvorhersehbare und nicht einschätzbare Begegnungen entstehen und Extremsituationen hervorrufen, denen man glaubt, nicht gewachsen zu sein und uns vor unvorhersehbare Herausforderungen stellen; die eigentlich das klassische Abenteuer bezeichnen, das jeder von uns auf irgendeine Art und Weise sucht, aber unsere mittlerweile sehr angeglichene Welt kaum noch für uns bereithält. Man darf das Abenteuer nicht mit dem Verlassen der Komfortzone verwechseln. Das einzig Verbliebene oder besser gesagt Immerwährende ist deshalb das, was in uns selbst, in unserer Fantasie stattfindet. Vorausgesetzt, wir sind bereit es zuzulassen, was als Künstler eben möglich ist.
In meinen Bildern kreiere ich Gedankenabenteuer, die in meinem Kopf entstanden sind, aber gleichzeitig in Bezug zu realen Ereignissen oder persönlichen Überlegungen stehen.
E.B.: Bedienst du dich deshalb innerhalb der Darstellung dieser Fantasiewelten real existierender Sujets?
Martin: Ja, weil die Realitätsverschiebung ins Geistige vor allem darüber funktioniert, bekannte Themen oder Figuren in unbekannte Zusammenhänge zu stellen. Wenn ich beispielsweise den unfreiwilligen Zusammenprall von zwei Personen, also eine sich tatsächlich in der Realität ereignende Slapstick-Situation, mit zwei Gurken oder zwei Kaugummis darstelle, gebe ich der Erzählung einfach eine andere Richtung.
E.B.: Oder mit vier Gurken und einer Karotte, wie in diesem Gemälde hier?
Martin: Genau. Gurken und Karotte, verknüpft an Marionettenfäden, geführt von einer Frauenhand. Das Bild enthält jede Menge Verweise: das Verhältnis Mann/Frau im manipulierenden Puppenspiel, das Sujet der Gurke als solche, die Erfindung eines Spiels mit minimalsten Mitteln, die Stupidität des Sujets als solches, soziale Unterschiede, das Thema Fleischlos/Vegan oder ist es vielleicht ein feministisches Bild? Das wichtigste für mich ist immer, das es einfach ein gutes und vor allem ein in der Form noch nie gesehenes Bild ist.
Erläuterung zum Gemälde La Jardinière (2021)
E.B.: Wie so oft in deinen Bildern ist eine positiv anmutende, aber gleichzeitig auch etwas Böses ausstrahlende Szenerie zu sehen. Ebenso typisch ist die knallige, fast kitschige Farbstimmung im traumfrequenzartigen Lichtschein.
Martin: Ich spiele gern mit der Ästhetik des Zuckergusses, oder momentan dem Pudrigem, und male Bilder mit einer benutzerfreundlichen Oberfläche und einem benutzerfeindlichen Inhalt – eine Art Mischung aus Disney und Tarantino …
E.B.: Um in diesem Vergleich zu bleiben, ist neben anderen Parallelen eine gewaltige Bilderflut charakterisierend. Woher holst du dir die Ideen für deine Bilder?
Martin: Aus dem Speicher meines Unterbewusstseins. Ich habe eine große Aufmerksamkeit gegenüber allem, das mich umgibt; bin grenzenlos neugierig und deshalb permanent mit allen Sinnen im Aufnahmemodus. Auch parallel zu meiner Arbeit höre ich Hörbücher, habe den Fernseher laufen, vielleicht obendrauf noch eine Sinfonie und werfe nebenbei einen Blick auf Instagram. Ich mute mir sozusagen das ganze verfügbare Unverdaute des Medienangebots zu. Im Ergebnis sind es viele hundert Bilder, die ich mir über den Tag verteilt anschaue. Ich bin ein Imagefresser oder vielleicht besser gesagt ein Imagehunter.
Imagehunter Bernhard Martin
E.B.: Und diese Images fließen dann unmittelbar in deine Malerei ein?
Martin: Nicht zwingend unmittelbar. Ich speichere sie in meinem Kopf, mache Gedankenskizzen, lade sie mit philosophischen, symbolischen oder auch spirituellen Gedanken auf, bis dann einzelne Bildfragmente aus mir heraus den Weg auf die Leinwand finden wollen und aus meiner Vorstellungskraft sich dann eine Gesamtszene entwickelt. Ich setze auf den Überraschungseffekt. So wie im Leben auch.
E.B.: Was aber auch unangenehme Überraschungen mit sich bringt.
Martin: Ja klar. Die gehören nun mal dazu. Natürlich wünsche auch ich mir ein Leben ohne Umwege, aber wenn es aufregend sein soll, dann geht auch mal was schief – all das ist Thema. Und letztlich wird es erst herausfordernd, wenn die Routine durcheinander gerät und man es dann trotzdem irgendwie hinbekommt. Dieses Nicht-Kalkulierbare ist doch das Interessanteste. Sich frei im Kopf darauf einlassen zu können setzt allerdings ein ungezwungenes Denken voraus, das sich im Laufe eines Lebens unter permanenten Vorgaben meist verliert. Instinktiv wehre ich mich dagegen. Deshalb hoffe ich, dass meine Exzessiv-Zeit auch absehbar nicht aufhören wird. Warum soll ich mich schonen und erwachsen werden wollen? Es gibt keinen einzigen Grund, warum ich das wollte. Ich denke, an die Grenzen der Gesellschaft zu stoßen ist doch das, was Kunst ausmacht. Wenn das nicht geht, schaffe ich mir meine eigenen Regeln.
E.B.: Warst du schon als Kind ein so unruhiger Geist?
Martin: Nicht unruhig – lebendig. Ich brauchte immer viele Ventile, um meine Energie irgendwo einfließen zu lassen. Eigentlich geht es doch immer um Energietransfer, auch in der Kunst. Entscheidend für den Betrachter ist nicht, dass er sie zwingend verstehen muss, sondern einen Energietransfer spürt. So wie man das auch in der Kneipe spürt, wenn man dort allein mit einem Drink sitzt, zwei Langweiler neben sich hocken hat und ganz genau weiß, dass man mit denen nicht reden will.
Wer kennt diese Situation nicht? Doch habe ich sie bisher nicht mit Kunstbetrachtung in Zusammenhang gestellt. Der Zusammenhang von Bernhard Martin und seiner Kunst hingegen hat sich nach diesem Gespräch wie von selbst zu erkennen gegeben. Die Worte, die mir unmittelbar in den Kopf geschossen sind und sich in meinem Social-Media-Account veröffentlicht finden, umfassen all das, was auch im Rückblick alles auf den Punkt bringt: „Tiefsinnig, humorvoll, schräg, facettenreich, überraschend: Die Person Bernhard Martin ebenso wie seine fantastischen Bildwelten“.
Und das ist wahrhaftig eine Mischung aus Disney und Tarantino!
Weitere Informationen
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vertretende Galerien:
Dittrich & Schlechtriem Gallery, Berlin: https://dittrich-schlechtriem.com
Choi & Lager Gallery, Köln: http://www.choiandlager.com
Autorin: www.elke-backes.de