Bonn/Düsseldorf, im Juni 2018. Durch die Ausstellung „The Steps with no Name“ im Kunstmuseum Bonn begleitet mich heute kein geringerer als der Künstler, für den diese Ausstellung ausgerichtet ist – Matthias Wollgast. Bonner Kunstpreis, Förderpreis für Bildende Kunst des Landes NRW, Einzelausstellungen in Museen … es läuft gerade richtig gut für ihn. Was macht das Besondere in seinem Werk aus, das sich zwischen Malerei, Zeichnung, Fotografie, Skulptur, Film, Künstlerbuch und sogar Möbeldesign bewegt?
Es war seine Idee, uns vor dem Atelierbesuch in der Ausstellung zu treffen. Um einen ersten, möglichst unvoreingenommen Eindruck zu bekommen, gehe ich zunächst einmal allein durch. Der Beginn des Parcours wirft schon erste Fragen auf. Ein schicker kleiner Raum, ausgelegt mit einem roten Teppich, bestückt mit edel designten Tischen und einer Bank, deren Sitzfläche mit empfindlichem Hochglanzlack versehen ist. Vor allem das dort ausgelegte Katalogmaterial und die Postkarten bestückten Vitrinen an der Wand erwecken den Anschein eines Museumsshops. Doch es fehlt die Kasse und irgendwie hat man auch das Gefühl, weder die sensible Bank benutzen noch irgendetwas anfassen zu dürfen. Darf man aber. Sollte man auch. Hier liegen nämlich die Publikationen, die eine wesentliche Funktion innerhalb der Arbeiten von Matthias Wollgast erfüllen. Doch dazu später mehr.
Store: Teppich, MDF, Plexiglas, Postkarten, Bücher, kameralose Fotografien (handkoloriert), Inkjet-Print, Lack, 2018, Fotos: David Ertl
Um die Ecke geht es weiter in einen Großraum. An der Wand hängt an einer seltsamen Gittervorrichtung die vermutliche Vorlage des Ausstellungsplakates. Die Fotografie scheint also wichtig zu sein. Ich gehe näher ran und stelle überrascht fest, dass es sich hierbei um ein Gemälde handelt, das nur aus der Ferne wie eine Fotografie aussieht.
prop no.3, 150 x 200 cm, Öl auf Leinwand, 2017, Foto: David Ertl
In der Mitte des Raumes befindet sich ein typisches Archivregal, bestückt mit exakt auf die Regalmaße abgestimmten, akkurat aufeinander gestapelten Boxen sowie ebenso akkurat eingeräumten Skulpturen und Objekte vorangegangener Ausstellungen. Soll hier etwa ein Museumsdepot nachgebildet werden? Vielleicht helfen die Beschriftungen auf den Boxen, das Rätsel zu lösen. Wortspielkombinationen wie „Aussichtslose Sachen“, „Schlecht besuchte Sonderausstellungen“ oder „Raffinierte Kunst“ sind ebenso darauf zu lesen wie bekannte Begriffe aus der Kunstgeschichte und Kunsttheorie. Irgendwie irritierend, aber amüsant. Die sichtbar belassene Außenkonstruktion des mutmaßlichen Museumsshops unterstreicht den Depotcharakter des Großraums. In Kombination zum Regal wirkt er aus dieser Blickachse wie eine abgestellte Transportkiste.
WYSIWYG, 210 x 400 x 100 cm, Stahl, Holz, Karton, Papier, Bademode, Epoxidharz, Lack, Farbe, 2017 und Store s.o., Fotos: David Ertl
Die dritte Station im Raum, die sich zunächst nur mit ihrer Rückseite präsentiert, enthält in ihrem Inneren eine Raumnachbildung. Ein dunkles Labor, steril und rätselhaft, im Hintergrund Geräusche von Apparaturen. Also wieder eine Art Bühne. Und wieder findet sich Bekanntes und Rätselhaftes darin. Wer Matthias Wollgast kennt, ahnt schon, dass auch mit dieser in Kollaboration mit dem Szenographen David Schnaegelberger entstandenen Kulisse eine große Story verbunden sein muss …
Set I, 270 x 350 x 300 cm, Stahl, Holz, Lack, Farbe, Edelstahl, Spiegeldibond, Plexiglas, LED, UV-Lampe, Schlauch, Stoff, Glas, diverse Objekte, Bücher, Sukkulente, 2018 (in Kollaboration mit David Schnaegelberger), Fotos: David Ertl
Der Geschichte um die erfundene Künstlergruppe der Rekonstruktivisten im Kontext der russischen Kunst der 1970er Jahre folgte die ebenso erfundene tragische Geschichte des in Vergessenheit geratenen Außenseiter-Künstlers Jan Usinger, dessen bislang unbekanntes Œuvre auf dem Dachboden des kunsthistorischen Instituts der Uni Bonn gefunden wurde, bevor es dann endlich seine spät verdiente Anerkennung erfahren konnte.
„Belegt“ und dokumentiert wurden diese Geschichten durch fiktives historisches Archivmaterial und Werke, die dann auch noch in Zusammenarbeit mit echten Kunsthistorikern in den kunsthistorischen Kontext eingeordnet wurden. Wichtiger Hinweis: Die Wissenschaftler waren eingeweiht und hatten einen Riesenspaß an der Inszenierung. Der gesamte Rahmen um die Geschichten wurde bis ins kleinste Detail von Matthias Wollgast entwickelt, insbesondere die fiktiven Kunstwerke alle von ihm produziert.
Auszüge aus OBMOKhU 79, Publikation über die erfundene Künstlergruppe der Rekonstruktivisten, 2014
Beispiele aus The Age of Neptune – Leben und Werk des Jan Usinger, fiktive Künstlermonografie, 2016
Neuestes Projekt ist das Making-of eines Films, den es nicht gibt. Der Titel entspricht dem der Ausstellung The Steps with no Name. Die Geschichte handelt vom Polarforscher Ray Mondt (dargestellt von Stefan Lampadius), der durch eine Lichtallergie gezwungen wird, von seiner Forschungsstation am Nordpol in die Dunkelheit einer Kellerwohnung in London umzuziehen. Es gibt oder wird am Ende fast alles geben, was üblicherweise ein Making-of kennzeichnet: Auszüge aus dem Drehbuch, Storyboard, Interviews, Fotos vom Set, Schauspieler, Plakate, ein Magazin (das in diesem Fall gleichzeitig der Ausstellungskatalog ist) oder auch Kritiken. Aber eben keinen Film. Die hier aufgebaute Bühne dient als Kulisse für neue ‘Standbilder’ des Films, die während der laufenden Ausstellung entstehen werden.
Beispiele aus dem Making-Of von The Steps with no Name (Standbild 4, Inkjetprint, 2017 und Ray, Publikation, 2018, Gestaltung: Edi Winarni)
Wie bereits bei den Vorgängern wird auch dieses Projekt mit einer finalen Publikation abgeschlossen werden. Das Künstlerbuch The Age of Neptune – Leben und Werk des Jan Usinger liegt im erfundenen Museumsshop aus. Bevor wir ins Atelier fahren, schaue ich es mir einmal an. Exakt nach dem Muster eines biographischen Künstlerporträts wirft es auf den ersten Blick keinerlei Fragen im Zusammenhang von Authentizität auf. Mit meinem neuen Wissen macht sich dann bei mir allerdings schnell eine Mischung aus Spaß und Erkenntnis breit. Nicht nur die Geschichte offenbart sich als das typische Klischee des übersehenen Künstlers, sondern auch die gesamte Gestaltung des Buches als eigenes Format mit gängigen Strukturen und Mustern, die ich bisher niemals in Zweifel gezogen habe.
The Age of Neptune – Leben und Werk des Jan Usinger, Publikation, 2016, Umschlaggestaltung: Edi Winarni
Eines ist klar: Beim Betrachten der Kunst von Matthias Wollgast sollte man genauer hinschauen. Offensichtlich ist nichts so, wie es auf den ersten Blick scheint. Entsprechend vorsichtig nähere ich mich nun noch den Postkarten. Badeanzüge und Vasen, aber auch vertraute Figuren von Boccioni oder Brancusi sind die Bildmotive. Freigestellt vor neutralem Hintergrund, sauber konturiert. Vermutlich digital erstellte Illustrationen. Ich frage nach. „Nein. Die Arbeiten sind durch kameralose Fotografie entstanden“, lautet die Antwort, die uns nun zwecks anschaulicherer Erläuterung ins Atelier nach Düsseldorf übersiedeln lässt.
figure no.37/figure no.38, handkolorierte Silbergelatineabzüge, je 55 x 45 cm, 2015, figure no.1, handkolorierter Silbergelatineabzug, 55 x 45 cm, 2012
Das Innere des Gebäudes, in dem sich Lager und Atelier von Matthias Wollgast befinden, wirkt wie eine verlassene Verwaltungsbehörde. Entsprechend schlägt uns eine gewaltige Portion Büro-Tristesse entgegen. Der Lagerraum, in dem wir unser Gespräch führen, rundet das Bild ab. Das Licht im fensterlosen Raum liefern Neonröhren. Der Boden ist mit PVC ausgelegt. Eine Plastik-Falttür dient als Raumteiler. Dahinter steht ein großes Archivregal. Moment! Verwirrenderweise sieht es demjenigen aus der Ausstellung sehr ähnlich. Matthias Wollgast bemerkt meinen Blick und hat sichtlich Spaß: „Ich dachte mir schon, dass dir die Ähnlichkeit sofort auffallen würde. Ist aber nur oberflächlich ähnlich. Das im Museum ist eine vollständige Maßanfertigung, dieses hier ist Standardware.“
Im Depot von Matthias Wollgast, Fotos: Natascha Romboy
Hilfreich zur Demonstration seiner kameralosen Fotografie sind die Leuchtkästen, die er nun einschaltet. Daran befestigt er das Negativ, dessen Positiv er mir zuvor gezeigt hat. Bei näherer Betrachtung entpuppt sich das Negativ als feinste Bleistiftzeichnung.
Positiv, dass durch ein gezeichnetes Negativ (s. Bleistiftzeichnung Bild 2) entstanden ist
„Eigentlich ganz einfach. Die Kamera bin ich. Eine bereits entwickelte Fotografie dient als Vorlage für das neue, von mir gezeichnete Negativ, das anschließend im üblichen fotografischen Verfahren entwickelt wird. Aus dieser Idee sind dann später die kolorierten Arbeiten entstanden, die du eben im Postkartenprint gesehen hast“, erklärt er und zeigt mir auch hierzu Beispiele. „Hierbei wird ein Motiv auf verschiedenfarbige Folien übertragen. Jede einzelne Farbnuance erfordert einen eigenen Folienschnitt.“ Die einzelnen Arbeitsschritte des Verfahrens zeigt und erläutert er in seinem Atelierraum. Erstaunlich zu sehen, dass die digitale Anmutung auf feinste künstlerische Handarbeit zurückzuführen ist.
„Warum ein solcher Aufwand, wenn dieser für den Betrachter doch gar nicht erkennbar ist“, möchte ich nun gern wissen.
Demonstration der Folien-Technik bei den kolorierten Arbeiten im Atelier, Fotos: Natascha Romboy
„Zunächst ging es um Aneignung, um die Frage von Autorenschaft. Die ersten der in dieser Technik von mir verwendeten Motive stammten nicht von mir. Dennoch ist aus diesen Vorlagen etwas Neues entstanden, das meine künstlerische Handschrift trägt. Wer ist dann der Autor? Traditionell ist man als Künstler immer dem Anspruch ausgesetzt, aus sich selbst heraus etwas Neues in der Kunst schaffen zu müssen. Zu Beginn meines künstlerischen Werdeganges – ich komme aus der Malerei – habe ich auch versucht, diesen Auftrag zu erfüllen. Irgendwann habe ich erkannt, wie unfrei mich das machte. Die Abwendung von der Malerei und die Geste der Aneignung von bekannten Motiven durch die von mir entwickelte Form der kameralosen Fotografie, bedeuteten damals einen Befreiungsschlag für mich. Ich entwickelte ein immer stärkeres Interesse an den Strukturen und Systematiken in der Kunst und hinterfragte ihren Einfluss auf unsere Seh- und Wahrnehmungsgewohnheiten“, verrät Matthias Wollgast den Hintergrund des großen Ganzen, der die Zusammenhänge nun plausibel werden lässt.
Auch wenn die Frage von Autorenschaft nicht mehr den einzigen Fokus bildet, sind ihre Reflexion und das Mittel der Aneignung feste Bestandteile der Arbeitsweise von Matthias Wollgast geworden. Am Beispiel seiner figures, die durch kameralose Fotografie entstanden sind oder auch an den Collagen des Jan Usinger macht er deutlich, dass ein neues Kunstwerk in der Regel nicht aus sich selbst heraus, sondern auf der Basis von Bezügen und Aneignungen entwickelt wird und entlarvt hiermit das Künstlergenie als Mythos. Und was passiert bei der Entwicklung eines Settings für seine fiktiven Geschichten? Hier sind es die Strukturen, Muster und Narrative rund um die Kunst, die er reflektiert und mittels Aneignung als einen Kontext herausstellt, der uns die Authentizität von Kunst nicht anzweifeln lässt.
Insgesamt ein wahrlich komplexes Konzept, das uns auf subtile und humorvolle Art und Weise unsere eigenen Wahrnehmungsmuster vor Augen führt. Einfach genial!
Weitere Informationen
… über den Künstler: http://www.matthias-wollgast.com/
… über seine Werke in der Galerie Rupert Pfab, Düsseldorf: http://www.galerie-pfab.com/de/artist/matthias_wollgast/works
… über die Ausstellung im Archiv des Kunstmuseums Bonn: http://www.kunstmuseum-bonn.de/ausstellungen/rueckblick/info/ex/bonner-kunstpreis-2017-3670/
The Age of Neptune. Leben und Werk des Jan Usinger auf der Seite von Strzelecki Books: https://www.strzelecki-books.com/kunst/
… über die Gruppenausstellung im Museum Morsbroich in 2020: http://www.museum-morsbroich.de/