Es geht nach Rotterdam. Hier besuche ich den niederländischen Künstler Jan Adriaans. Da er sich derzeit auf Videokunst konzentriert, werden die Räumlichkeiten vermutlich nicht viel über ihn erzählen. Werden seine Erzählungen ausreichen um ihn und seine Arbeit zu verstehen? Es ist ein Experiment. Neben Videokunst wurden bisher in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen auch fotografische Arbeiten sowie Installationen von ihm präsentiert. Warum er sich bei seinem aktuellen Projekt für Video entschieden hat, wird er mir später erzählen.
Doch zunächst zur Stadt: Eine charmante Mischung aus Historischem und Modernem prägt das Bild von Rotterdam. Gleichzeitig großstädtisch und ländlich, denke ich, als ich in die Zielstraße einbiege. Gegenüber einer beeindruckenden Kirche im typisch niederländischen Backsteinexpressionismus befindet sich das Atelierhaus. Es sieht aus wie ein zur Kirche gehöriger Funktionsbau? – Tatsächlich, auf dem Schild im Eingang ist zu lesen, dass es sich hier um ein ehemaliges Nonnenkloster aus dem beginnenden 20. Jahrhundert handelt.
Jan Adriaans tritt heraus und winkt uns fröhlich zu. Uns, denn begleitet werde ich wieder von Sarah Schovenberg, die auch heute die fotografische Dokumentation übernimmt. Wir gehen gemeinsam hinein und es ist genauso, wie ich befürchtet hatte. Der schlichte Raum ist minimal möbliert und … es sind wirklich keinerlei Utensilien zu sehen, die irgendwie auf eine kreative Wirkungsstätte hinweisen würden. Einzig der mit viel Technik beladene Schreibtisch könnte eine Verbindung zu einem Videokünstler vermuten lassen, genauso gut allerdings auch zu einem Kommunikationsdesigner, stelle ich in derselben Minute ernüchtert fest.
Detailansichten des Ateliers
Adriaans bittet uns an den Tisch, wo holländische Honigwaffeln, Bio-Kekse, Tomaten und frisch aufgebrühter Tee schon auf uns warten. Vor vier Jahren habe ich die letzte Ausstellung von ihm gesehen. Was ist zwischenzeitlich passiert? Wie hat sich seine Arbeit entwickelt?
Bild 1: Jan Adriaans und Elke Backes – Bild 2: Der Arbeitsplatz
Zunehmend fasziniere ihn die Visualisierung wissenschaftlicher Theorien, erzählt er mir mit leuchtenden Augen unmittelbar zu Beginn unseres Gesprächs. Neben den vielen Büchern, die mir sofort aufgefallen sind, realisiere ich nun die auf dem Tisch liegenden Berge von Papier, auf denen Texte zu erkennen sind wie auch die ordentlich in einer Reihe aufgehängten Einzelblätter an der Wand. „Welche Wissenschaft genau?“, möchte ich wissen. „Die Kombination aus Neurowissenschaften [hier die Gehirnforschung] und Philosophie“, lautet die Antwort, die mir spontan Angst einflößt. Klingt sie als solches ja schon schwierig und kompliziert. Wie soll ich mir dazu eine künstlerische Umsetzung vorstellen und vor allem, wie diese beschreiben?
Jan Adriaans lacht, als er mein entsetztes Gesicht sieht und bringt zum Glück gleich Licht in mein Dunkel. „Es ist die Auseinandersetzung mit den Fragen: Was ist Wahrnehmung? Wo findet Denken statt? Die Auseinandersetzung mit den Phänomenen von Bewusstsein und Gedächtnis. Es ist wahnsinnig spannend und irritierend zugleich, wenn innerhalb neurowissenschaftlicher Studien deutlich wird, wie wenig unser Handeln bewusst steuerbar ist. Man kann sagen, dass alles, was geschieht, eine Folge von biologischen Prozessen ist. Wie können wir also Maßnahmen ergreifen?
Und genau an dieser Stelle setzt nun die Philosophie an, die das Wesen des Selbst, des Individuums erforscht. Auf der einen Seite betrachten wir die menschliche Spezies mit ihren Neuronen, ihrer chemischen Zusammensetzung und ihrem Nervensystem als wissenschaftliches Wesen. Auf der anderen Seite betrachten wir die Menschen als besondere Wesen, die sich in einem sozialen Kontext entwickeln und ein starkes Verlangen haben, jemand zu sein. Man könnte sagen, die Neurowissenschaft führt der Philosophie die Grenzen der Subjektivität vor Augen. Das wahrnehmbare Bild, das wir produzieren, das Bild, das sich durch logisches Denkens innerhalb von Diskussionsprozessen entwickelt, muss mit den wissenschaftlichen Bildern in Verbindung gebracht werden.
Was wissen wir eigentlich über uns selbst? Und vor allem – gibt es Möglichkeiten, die Automatismen unseres Handelns zu beeinflussen? Das sind die zentralen Fragen, die mich beschäftigen und die ich in meinen aktuellen Projekten künstlerisch umzusetzen versuche.“
Doch wie soll ein so komplexes Thema in Bilder übertragen werden können, frage ich mich. „In den Videos thematisiere ich biologische und daher automatisierte Interaktionen zwischen Mensch und Tier oder auch Tieren untereinander“, ergänzt Adriaans, meine Frage ahnend. – Jetzt kann ich mir gar nichts mehr darunter vorstellen und bin nun mehr als gespannt auf die beiden Filme, die auf mich warten. Zuvor möchte ich noch gerne wissen, warum er sich ausschließlich auf Video konzentriert hat. „Zum einen haben mich die gesamten Rahmenbedingungen herausgefordert, die die Vorbereitung eines Films erfordert. Alles muss sitzen, wenn die Kamera läuft. Parallel begeistern mich genau die unvorhersehbaren Zufälle, die es plötzlich zu bewältigen gilt, die einem Film auch manchmal eine spontane Wendung geben. Aber vor allem sind es natürlich die grundsätzlichen Möglichkeiten des Films, mit denen ich Spannung aufbauen kann. Hiermit kann ich ganz gezielt mit den Mechanismen unserer Wahrnehmung, um die es mir ja im Besonderen geht, experimentieren. Nicht zu vergessen ist hierbei auch die Möglichkeit, Soundeffekte einsetzen zu können.“ „Und wie hast du dich konkret auf deine beiden neuen Filme vorbereitet? Gibt es vielleicht ein Modell, das du gebaut hast?“, frage ich und schaue mich suchend im Raum um. Triumphierend und augenzwinkernd holt er ein Mini-Modell aus dem Regal hervor. Es ist eine aus Papier gebaute offene Kiste, in deren Mitte sich ein rundes Podest befindet. Auf dem Podest thront ein Hahn aus Plastik, ein zweiter ist außerhalb der Kiste platziert. Es wird nun definitiv Zeit, den Film anzuschauen.
Bild 1: Modell für territorial Drift – Bild 2: Vorbereitungen zum Dreh in Mexiko
Erwartungsvoll und skeptisch sitze ich vor dem Bildschirm als das erste Video startet.
Video-Ausschnitte aus: territorial Drift, 2016
Dieses Video wurde in Mexiko gedreht, wo Hahnenkämpfe nach wie vor zu den traditionellen Sportarten gehören und entsprechend die Zucht von Kampfhähnen kultiviert wird. Die Hühner stammen von einer solchen Farm.
Video-Ausschnitte aus: Stay, 2015
Adriaans inszenierte das Set für dieses Video in einer Autowerkstatt und produzierte auch den Sound.
Ende. Ich bin aufgewühlt und versuche zu verstehen warum. Vielleicht hilft ein kurzes Brainstorming. Beim Video mit Dobermann dachte ich spontan an: Schlachthof, Gruselthriller, Macht, Kräftemessen … Waren es die langsame, heranzoomende Kameraführung, die kühle Ästhetik, der nervige Sound, der unter offensichtlicher Spannung stehende Hund, die sich aufbauende Aggressivität des Hundes und der Stimme des “Herrchens“ aus dem Off oder eine Kombination aus alledem, was mich so gefesselt und aufgewühlt hat?
Beim ersten Video war es anders. Hier haben mich zunächst die Farben des Gefieders fasziniert, bevor mich dann ein Gefühl von Beklemmung erfasst hat. Ich spürte förmlich die zunehmende Unruhe der Hühner. Die getrennten aber parallel dargestellten Szenerien ließen schon erahnen, dass eine Zusammenführung der beiden im Moment harmlos daherkommenden Protagonisten in Aggression und Chaos enden musste. Ich wartete nur noch auf diesen entscheidenden Moment. Aber – auf einen solchen Moment wartete ich doch auch im zweiten Video? Denn ich wartete darauf, dass der Hund in seiner gesteigerten Aggression ausbricht. Während ich meine Gedanken laut ausspreche, lehnt sich Adriaans zufrieden lächelnd zurück. Offensichtlich scheint er genau diese Reaktion beabsichtigt zu haben. Was passiert hier?
Ihm geht es um die Visualisierung von Interaktionen, hat er eben erzählt. Was verbirgt sich eigentlich hinter diesem Begriff? Zunächst einmal ist es doch nichts anderes als ein wechselseitiges Einwirken. Eine Sache passiert durch eine andere Sache. Ich suche nach Beispielen. Welche Umstände können dazu führen, dass meine Handlung beeinflusst wird? Es können Geräusche sein wie beispielsweise ein lauter Knall, der mich zusammenzucken lässt. Es kann ebenso Musik sein, die mich emotional „anfasst“. Auf neurowissenschaftlicher Ebene würde man wahrscheinlich in diesem Fall von Reflexen oder der Reaktion unserer Zellen auf Reize sprechen. Was gibt es für Reize, auf die wir reagieren? Ich denke an Dinge, die unsere Sinnesorgane wahrnehmen, an Räume, die atmosphärisch auf uns wirken, uns ebenso beruhigen wie beunruhigen können. Aber dann fällt mir ein, dass es auch die Stimmungen und Handlungen anderer sein können, die uns reizen und unser Handeln bestimmen können, positiv wie negativ. Wie bei den Tieren in den Videos. Stimme und Raumatmosphäre wurden eingesetzt und genutzt, um den Hund und letztlich in Wechselwirkung das Herrchen zu provozieren. Bei den Hühnern war es vor allem das Eingesperrtsein, das bewusst Angst und Überlebensinstinkte provoziert hat, um die Tiere dadurch kampfeslustig zu stimmen. Bedeutet das im übertragenen Sinne vielleicht, dass mit bewusst eingesetzten Mitteln vorhersehbare Reflexe und Reize von Menschen und Tieren aktiviert werden können, um deren Handlungen zu steuern? Eine gruselige Vorstellung.
Inwiefern wurden eigentlich meine Sinne, Reflexe und Reize bei der Betrachtung der Videos gesteuert, frage ich mich nun. Sind es nicht auch gerade die Mittel des Films, die vorhersehbare und damit planbare Emotionen bei uns auslösen können? Jan Adriaans könnte also bewusst mit filmischen Mitteln Emotionen provozieren, die beim Betrachter Irritationen auslösen, um dann über diese Irritation zu erreichen, dass man sich mit den eigenen Reaktionen auseinandersetzt. Wie war das noch? Auf der Suche nach dem Individuum versucht er die Frage, ob und wie die Automatismen unseres Handelns beeinflusst werden können, künstlerisch zu beantworten.
Seine Videos führen uns diese Automatismen vor Augen, machen uns die menschliche Natur bewusst. Kann ein solches Bewusstsein nicht vielleicht dazu führen, dass wir unser eigenes Handeln und das unserer Umgebung kritischer hinterfragen und damit – vielleicht – Einfluss auf unser zukünftiges Handeln nehmen? Das ist es doch, was letztlich unsere Individualität prägt und formt. War dieses Zusammenspiel nicht die zentrale Frage, die er mit seiner Kunst zu beantworten suchte? …
WEITERE INFORMATIONEN
… zum Künstler: http://www.janadriaans.com
… zur nächsten Einzelausstellung im BB15 in Linz: http://bb15.at
… zur Hochschule, über die er seinen Abschluss (MA) absolvierte: Dutch Art Institute http://dutchartinstitute.eu