Atelierfotos: Karl Rogers
Kapstadt. Die Betrachtung der Fotografien von Pieter Hugo löst oft Unbehagen aus. Man möchte gar nicht hinsehen und wird gleichzeitig angezogen. Ein Faszinosum, das sich über alle seine berühmten Werkserien wie Looking Aside, Permanent Error, The Hyena & Other Men oder sein aktuelles Projekt La Cucaracha erstreckt. Warum lassen einen diese Bilder nicht los? In meinem Gespräch versuche ich diesem Phänomen auf den Grund zu gehen. Wir treffen uns in seinem Studio in Kapstadt.
v.l.n.r.: Thami Mawe, Johannesburg, 2003, from the Series Looking Aside, 2004-2005, ©Pieter Hugo; David Akore, Agbogbloshie Market, Accra, Ghana 2010, from the Series Permanent Error, 2010, ©Pieter Hugo; Abdullahi Mohammed with Mainasara, Lagos, Nigeria, 2007, from the series The Hyena & Other Men, ©Pieter Hugo (all images: courtesy, PRISKA PASQUER, Cologne)
Mit seiner Größe und Statur strahlt Pieter Hugo im ersten Augenblick etwas Einschüchterndes aus. Doch sein breites Willkommenslächeln und die einladende Geste, mit der er mich hineinbittet, lockern unmittelbar meine anfängliche Anspannung.
Der Weg in seinen Arbeitsraum führt durch das eigene Druckstudio, wo gerade rege Betriebsamkeit herrscht. In seinem Atelier angekommen, ermöglicht mir ein erster Smalltalk mich umzuschauen. Vor allem die drei Fotografien in meinem Blickfeld drängen sich auf. Zu sehen sind ein lichterloh brennender Kaktus, das Porträt eines verhärmten, zerfurchten Mannes, der den Betrachter herausfordernd anschaut und ein gerissenes Tier am Straßenrand. Wie gewohnt – keine Szenen, die optimistisch anmuten. Motive seines gerade abgeschlossenen Projekts La Cucaracha? Ich frage nach.
Einblicke ins Studio
Hugo: Nur das Motiv mit dem brennenden Kaktus. Zurzeit sind wir dabei, die bevorstehenden Ausstellungen in Kapstadt [Stevenson Gallery], Köln [Priska Pasquer] und New York [Yossi Milo Gallery] vorzubereiten. Soll heißen, auszuwählen und die Formate festzulegen.
Um was geht es dabei?
Hugo: Dem Projekt vorausgegangen ist die Gruppenausstellung Crossing Night in Mexiko. Auf Einladung des Kurators Francisco Berzunza habe ich dort eine Werkserie entwickelt, die als Briefing die Auseinandersetzung mit den Themen Sex und Sterblichkeit vorgegeben hatte. Das Land hat mich sofort gepackt. Ich wollte es weiter erforschen, was letztlich vier weitere Reisen innerhalb von zwei Jahren nach sich gezogen hat. La Cucaracha ist nun das Ergebnis.
Wie bist du an diese Aufgabe herangegangen? Üblicherweise folgst du ja eher eigenen Impulsen.
Hugo: Ja. Das ist richtig. In der Regel sind es Bilder, die mir in Magazinbeiträgen oder Dokumentationen begegnen, die mich zu einem neuen Projekt inspirieren. Die Herangehensweise ist aber immer ähnlich. Ich reise an den Ort des Geschehens und verschaffe mir zunächst einen ersten, überwiegend visuellen Eindruck, schaue mir die Umgebung an, die Menschen und ihre Lebensbedingungen. Das führt im nächsten Schritt zu einer weiteren inhaltlichen Auseinandersetzung. Im Mexiko war es anders. Dort habe ich mich als erstes mit dem Muralismus beschäftigt, den monumentalen Wandmalereien, die in den 1920er Jahren nach der mexikanischen Revolution für den öffentlichen Raum geschaffen wurden. Ich habe mir berühmte Werke von Diego Rivera und David Alfaro Siqueiros angeschaut und mich dann damit beschäftigt.
Mit welchem Ergebnis?
Hugo: An dieser Kunstform haben mich verschiedene Aspekte fasziniert. Zum einen, dass sie von Revolutionären entwickelt und auch ausgeführt wurde. Zum anderen, dass in einem Bild verschiedene Geschichten gleichzeitig erzählt und hiermit geradezu eine Meta-Ebene konstruiert wurde. Mir wurde bewusst, dass es genau das Gegenteil der Fotografie ist, die in der Regel nur einen einzelnen Moment abbildet. Die Tatsache, dass insbesondere Siqueiros sich dabei von Fotografien von Leo Matiz inspirieren ließ, löste in mir den Impuls aus, den Prozess erneut umkehren zu wollen. Das Ergebnis ist dieses Bild …
Bild o.r.: Szene aus dem Gemälde von David Alfaro Siqueiros; Bild u.r.: After Siqueiros, Oaxaca de Juárez, 2018, ©Pieter Hugo, courtesy PRISKA PASQUER, Cologne
Das Referenzbild und seine Neuinterpretation erscheinen auf dem Monitor. Protest und Aktion in den Gesichtern der Arbeiter im Wandgemälde aus dem 20. Jahrhundert, mehr Resignation als Kampfansage im Blick der Arbeiter auf der Fotografie aus dem heutigen Mexiko.
Sind es, wie so häufig in deinen Bildern, Schauspieler?
Hugo: Nein, in diesem Fall sind es Straßenkehrer, die ich auf einem Markt angesprochen hatte. Das Gute war, dass ich nichts erklären musste. Jeder Mexikaner kennt dieses Gemälde. In neun von zehn Fällen geht der Versuch mit Laien zu arbeiten schief. Hier hat es glücklicherweise super funktioniert [lacht].
Jeder Mexikaner kennt auch das spanische Volkslied „La Cucaracha“. War das der Grund, sich für diesen Titel zu entscheiden?
Hugo: Das Lied spiegelt auf vielfältige Art und Weise die Bedingungen des Landes. Ebenso wie der Muralismus wird es vor allem mit der mexikanischen Revolution in Verbindung gebracht, weil Rebellen- und Regierungstruppen gleichermaßen Texte erfanden, in denen wichtige politische Persönlichkeiten, die Ereignisses des Krieges und seine Auswirkungen in der Musik ihren Ausdruck fanden. Bis heute gibt es immer wieder karikierende Textvarianten. Vor diesem Hintergrund erschien mir der Titel sehr passend.
Wir schauen uns weitere Motive an. Wie für Pieter Hugo typisch finden sich gleichermaßen Porträts, Landschaftsaufnahmen sowie Stillleben. Ebenfalls typisch ist der reduzierte und klare Bildaufbau, untypisch hingegen sind die überbordenden Farben.
Beispiele aus der Serie La Cucaracha: oben v.l.n.r.: The advocate at home, Mexico City, 2019, ©Pieter Hugo, Making pigments, San Agustin Etla, 2018, ©Pieter Hugo, unten v.l.n.r.: El gato, Hermosillo, 2019, ©Pieter Hugo, Black Friday, Oaxaca de Juárez, 2018, ©Pieter Hugo, To have and to hold, Oaxaca de Juárez, 2018, ©Pieter Hugo, The wedding gift, Juchitán de Zaragoza, 2018, ©Pieter Hugo (all images: courtesy PRISKA PASQUER, Cologne)
Welche Bedeutung hat der umgebende Raum, ein Accessoire oder die Farbigkeit für die jeweilige Szene?
Hugo: Eine ganz Wesentliche. Hiermit komponiere ich die Informationen zum Bild, stelle einen Kontext her. Meine Herangehensweise ist vergleichbar mit der eines Bildhauers, wenn er eine Plastik erstellt. Ich füge etwas hinzu, nehme es wieder weg, experimentiere …
Sind es in diesen Beispielen die jeweiligen Personen oder eher die typischen Dinge, die man mit dem Land Mexiko in Verbindung bringt, wie beispielsweise Frida Kalo mit Blumenkranz, Exotik, dogmatischer Katholizismus oder Drogenkriminalität, die im Mittelpunkt stehen?
Hugo: Es ist eher das Spiel mit Klischees.
Um im Ergebnis ein ungeschöntes Gesellschaftsbild zu konstruieren?
Hugo: Auch. Aber nicht im klassischen Sinne. Die abgebildeten Personen verkörpern eine von mir vorgegebene Rolle in einer von mir konstruierten Realität. Jedes einzelne Bild steht zunächst einmal für sich selbst. In der Komposition könnte man gegebenenfalls von einem inszenierten Gesellschaftsbild sprechen. Doch ist der zentrale Aspekt in dieser wie auch in allen weiteren meiner Projekte die Darstellung der Anderen, der Außenseiter. In dieser Serie umfasst das Außenseiterdasein – seit Trump – sogar das gesamte Land.
Beispiele aus der Serie La Cucaracha, v.l.n.r.: Spoliation of Evidence, Hermosillo, 2019, ©Pieter Hugo,The snake charmer, Hermosillo, 2019, ©Pieter Hugo (all images: courtesy PRISKA PASQUER, Cologne)
Beim Anblick des brennenden Körpers wird es mir nun mehr als mulmig zumute. Die Schlange, die langsam den nackten, verloren in der Peripherie stehenden Mann einzuschnüren scheint, ist auch nicht unbedingt beruhigend. Beruhigend ist einzig die Tatsache, dass es sich um Inszenierungen handelt. Doch ist es die Art und Weise der Inszenierungen Pieter Hugos, die immer wieder heftige Kritik hervorruft.
Wie gehst du mit dieser Kritik um?
Hugo: Es ist genau das, was ich möchte. Ich mache keine Bilder, die gefallen, sondern Dialoge provozieren sollen. Alles andere ist für mich langweilig, ist Dekoration und keine Kunst.
Abschlussfrage: Was ist Schönheit für dich?
Hugo: Es sind Dinge, die sich im ersten Moment nicht als solche zu erkennen geben. In Mexiko beispielsweise leben viele Menschen unter unakzeptablen Bedingungen. Doch ist es ihr besonderes Ethos, das sie mit Humor, der Wahrung von Traditionen und einem ausgeprägten Sinn für Gemeinschaft diese Bedingungen akzeptieren lässt. Hierzu gehören auch ihre besondere Beziehung zum Tod und der Glaube an ein Leben danach. Das alles ist für mich eine Schönheit, die sich in der Hässlichkeit des Alltags verbirgt.
Ist es das, was der Betrachter instinktiv spürt, wenn er die Fotografien von Pieter Hugo anschaut? Ist das Wegsehen wollen, aber gleichzeitig voyeuristisch daran Festhängen bleiben auf die Suche nach dieser verborgenen Schönheit zurückzuführen? Oder auf die Suche nach der Wahrheit in der Fotografie? Seine Bilder erwecken oft den Anschein dokumentarisch zu sein. Meine impulsive Frage: Ist das echt? beim Anblick des brennenden Körpers konnte ich gerade noch rechtzeitig hinunterschlucken. Dass es diese Wahrheit selbst in der Dokumentarfotografie nicht gibt, weil jedes Bild durch den Blick und die Intention seines Fotografen beeinflusst ist, ist bekannt. Bei Pieter Hugo ist es aber nicht nur der Bildausschnitt oder die Perspektive, sondern der gesamte Bildinhalt, der von ihm erzählt wird. Der Umstand, das seine Interpretationen von Außenseitern auf recherchierten Realitäten basiert, erschwert eine Zuordnung. Es ist ein Mix. Entscheidender ist, dass es ihm mit den Stilmitteln der inszenierten Fotografie gelingt, den Betrachter dazu herauszufordern, verborgene Schönheiten entdecken zu wollen. Oder anders gesagt: Er konstruiert Realitäten, die emotionale Reaktionen hervorrufen und deshalb zu einer Auseinandersetzung mit unbequemen Themen motivieren, vor denen wir eigentlich lieber die Augen verschließen.